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3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert | 275
chen Entdeckungen standen nicht immer im Widerstreit zur okkulten Bewegung,
sondern wurden von dieser vielmehr für ihre Zwecke vereinnahmt. Carl du Prel
(1839–1899), Philosoph und Verfasser zahlreicher populärer okkultistischer Schrif-
ten, postulierte: „Der Occultismus ist nur unbekannte Naturwissenschaft. Er wird
bewiesen werden durch die Naturwissenschaft der Zukunft.“296 Tatsächlich versuch-
ten viele Wissenschafter der Zeit, wie beispielsweise der bereits genannte Charles
Richet, der als Mediziner 1913 den Nobelpreis erhielt, sich unerklärbaren Phäno-
menen wissenschaftlich zu nähern, wofür der Begriff des wissenschaftlichen oder
kritischen Okkultismus (später auch Parapsychologie) eingeführt wurde.297
Wie unscharf die Grenze zwischen Wissenschaft und „Pseudowissenschaft“ oft
gezogen wurde,298 wird im Folgenden noch an einer Episode aus der Biographie des
Künstlers Aloys Wach aufgezeigt werden, dessen Engagement für Experimente zur
Suche einer geheimnisvollen „Urkraft“ in den 1920er-Jahren exemplarisch die hier
genannten Fäden aufnimmt. Neben Aloys Wach, der ein ausgeprägtes Interesse an
esoterischen Themen hatte, ist von den hier untersuchten Künstlern noch Alfred
Kubin zu nennen, der stark in den zeitgenössischen Esoterik-Diskurs eingebunden
war. Ähnlich wie Wach war Kubin ein Suchender nach Sinn und Wesen des Seins
und studierte zahlreiche Schriften, von klassischer Philosophie bis hin zu Werken,
die sich mit Spiritismus und ähnlichen Phänomenen beschäftigten. Ausgehend von
diesem gemeinsamen Interesse verwundert es, dass Wach und Kubin, noch dazu
beide im oberösterreichischen Innviertel wohnhaft, keinen intensiven Kontakt zu-
einander hatten. Die wenige Korrespondenz verweist darauf, dass sie einander nie
persönlich kennengelernt haben.299 Umso interessanter ist der Fund eines Briefes
von Alfred Kubin an Aloys Wach, in dem Kubin eine Einladung Wachs zu einer
Séance mit großem Bedauern ablehnte.300 Spiritistische Sitzungen waren im Um-
feld beider Künstler keine Seltenheit, Kubins katholisch-fromme Haushälterin hielt
das „verrückte Tischchen“, das in Kubins Bauernstube in Zwickledt einen fixen Platz
296 Carl du Prel 1893, zit. nach Bauer, Spiritismus und Okkultismus, 60. Zu Carl du Prel vgl. auch
Miers, Lexikon des Geheimwissens, 494.
297 Vgl. Lux/Paletschek, Okkultismus in der Moderne, 316.
298 Vgl. Dirk Rupnow/Veronika Lipphardt/Jens Thiel/Christina Wessely (Hg.), Pseudowissenschaft.
Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main
2008.
299 ONB, Teil-NL Wach, Mappe 624/99, Alfred Kubin. Die dort erhaltenen Schriftstücke Alfred Ku-
bins verweisen auf ein eher distanziertes Verhältnis. In den Briefen geht es v.a. um geschäftliche
Belange bezüglich der Innviertler Künstlergilde. In einem Beileidsschreiben nach Wachs Tod im
Jahr 1940 bedauert Kubin gegenüber der Witwe, den Kollegen Aloys Wach nie persönlich kennen-
gelernt zu haben. AK an Käthe Wachlmayr, Wernstein 16.12.1940.
300 ONB, Teil-NL Wach, Mappe 624/99, Alfred Kubin, AK an AW, 23.11.1926.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463