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3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert | 285
seine künstlerische Entwicklung beeinflusst. Mit der Betonung seiner Hellsichtig-
keit lag Wach im Trend der Zeit. Okkulte Strömungen und Lehren sowie auch die
Naturwissenschaften beschäftigten sich mit den nicht-sichtbaren Phänomenen der
Natur, mit Strahlen, Schwingungen und Strömen. War es schon für die Wissenschaf-
terInnen nicht immer einfach, zwischen beweisbaren Phänomenen und solchen, die
wissenschaftlicher Grundlagen entbehrten, zu unterscheiden, galt dies für Laien na-
türlich umso mehr. Wieso sollte es möglich sein, mit Hilfe von (Röntgen-)Strahlen
das Innere eines Körpers durchleuchten und abbilden zu können, andere Vorstel-
lungen von „Hellsicht“ seien aber Aberglaube?
Für die Aufzeichnung des „Nicht-Sichtbaren“ waren von jeher die Künste zustän-
dig. Von daher verwundert es nicht, dass sich zahlreiche KünstlerInnen jener Zeit,
nicht zuletzt jene, die dezidiert der Moderne zugeschrieben werden können, sich
ganz besonders von neuen Zugängen zu Aspekten der „unsichtbaren Phänomene“
angezogen fühlten. Auch Wachs Interesse für Okkultes ist in diesem Kontext zu se-
hen. Es führte ihn zu intensiven Studien verschiedener esoterischer Lehren. Leider
liegt für Wach kein Verzeichnis seiner Bibliothek vor, das, ähnlich wie bei Kubin,
Aufschluss über die ihn beeinflussende Lektüre auf diesem Gebiet geben könnte.
Nachgegangen werden kann daher nur jenen Namen und Werken, die er in ver-
schiedenen erhaltenen autobiographischen Dokumenten nennt. Besonderes Inter-
esse entwickelte Wach für die aus der jüdischen Mystik entwickelte Kabbala, bezie-
hungsweise für deren zeitgenössische esoterische Interpretation durch Éliphas Lévi.
Éliphas Lévi (1810–1875) kann als einer der wichtigsten Wegbereiter des mo-
dernen Okkultismus bezeichnet werden. Alphonse Louis Constant – so sein Name,
bevor er diesen ins Hebräische übertrug – war katholischer Diakon und nannte
sich trotz fehlender Priesterweihe Abbé Constant.334 Er bewegte sich in Paris im
Kreis der FrühsozialistInnen um Flora Tristan, trat aber nach einer Krisenphase den
Rückzug aus der politischen Bewegung an, und es kam zu seiner „Wiederauferste-
hung als Magier Éliphas Lévi“.335 Eckhard Graf sieht darin einen prinzipiellen Er-
klärungsansatz für die starke Hinwendung zu okkulten Bewegungen in politischen
Krisenphasen: „Nachdem eine politische Utopie an der äußeren Realität zerbrochen
ist, richtet sich das Bemühen um Veränderung nach innen.“336 Lévis Lehren, in de-
ren Zentrum die Existenz eines allgegenwärtigen Astral-Lichts stand, publizierte er
ab Mitte des 19.
Jahrhunderts in zahlreichen Bänden. Er beschäftigte sich darin auch
mit der Kabbala und brachte diese in Verbindung mit den Karten des Tarot. Die bis
334 Miers, Lexikon des Geheimwissens, 380–381.
335 Eckhard Graf, Mythos Tarot. Historische Fakten, Ahlerstedt 1989, 98.
336 Graf, Mythos Tarot, 98.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463