Page - 286 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Image of the Page - 286 -
Text of the Page - 286 -
| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse286
heute in der Esoterik bestehende und unhinterfragte Verbindung von Kabbala und
Tarot geht weitgehend auf Lévi zurück,337 die aus dem Mittelalter stammende jüdi-
sche Kabbalistik stand ursprünglich in keinerlei Verbindung mit dem Tarot.
Sowohl Tarot als auch Kabbala gehörten um die Wende zum 20. Jahrhundert
schließlich zu den zentralen Versatzstücken okkultistisch-esoterischer Praktiken.
Dabei handelte es sich nur um eine von unzähligen Rezeptionsformen in der jahr-
hundertelangen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte kabbalistischer Tradition,
die sich weit von den Texten und Grundideen der jüdischen Mystiker des Mittelal-
ters entfernt hatten. Widersprüchlichkeit und Komplexität begleitet die Kabbalistik
seit ihren Anfängen und wenngleich es so etwas wie Grundideen oder Basistexte
gibt, ließ sich die Kabbala vielfach vereinnahmen und/oder weiterentwickeln, bis
hin zu ihrer Loslösung aus dem jüdischen Kontext.338 Schon im 15. Jahrhundert
übernahmen christliche Gelehrte, allen voran der Florentiner Giovanni Pico della
Mirandola, Elemente kabbalistischer Texte und setzten sie in Verbindung mit Be-
reichen der Magie, Astrologie und anderen esoterischen Lehren. Anders als in der
jüdischen Tradition fokussierte man in dieser Auslegung besonders auf die „man-
nigfachen Transmutationen des hebräischen Alphabets und die numerologischen
Methoden“.339 Auf diesen Aspekt bezog sich auch die Aufnahme kabbalistischer
Elemente in den breiten Kanon des „modernen Okkultismus“ des 19. und frühen
20. Jahrhunderts. Für die Verbreitung und Popularität der Kabbala in deutschspra-
chigen Intellektuellen- und Künstlerkreisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sorgte
337 Lévi selbst verweist diesbezüglich auf Court de Gébelin (Éliphas Lévi, Geschichte der Magie, Mün-
chen 1926, 82). Tatsächlich gilt Antoine Court de Gébelin, der im 18. Jahrhundert im Zentrum
okkulter und esoterischer Praktiken stand, als „Entdecker“ des Tarot im esoterischen Zusammen-
hang. Er führte das Kartenspiel auf das geheimnisvolle Buch Thot der Ägypter zurück, sah aber
auch eine Übereinstimmung der 22 Kartenbilder mit den 22 Buchstaben des hebräischen Alpha-
bets. Lévi nahm diese Theorie auf und popularisierte sie durch seine Publikationen. Vgl. Graf,
Mythos Tarot, 7 ff u. 91 ff.
338 Als besonders übersichtliche Einführung zur Kabbala vgl. Joseph Dan, Die Kabbala. Eine kleine Ein-
führung, Stuttgart 2007. Dan gelingt es, in dem kleinen Reclam-Band die Grundlagen und komplexe
Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der aus der jüdischen Mystik stammenden und vielfach trans-
formierten und verbreiteten Kabbala verständlich darzustellen. Eine simple Antwort auf die Frage,
was die Kabbala eigentlich sei, muss aber auch Dan schuldig bleiben, denn eine solche kann es nicht
geben, oder wie Dan es formuliert: „Ein gemeinsamer Nenner aller Antworten auf die Frage ‚Was ist
Kabbala?‘ dürfte lauten, die Kabbala sei etwas, von dem man selbst nur eine vage Vorstellung habe,
doch irgendwo gebe es jemanden, der ihre Bedeutung genau kenne.“ Ebd., 19.
339 Dan, Kabbala, 87 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463