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3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert | 289
„Aber wir sind aufgeklärt. Ein wenig abergläubisch manchmal. Gehn sogar zum Astrolo-
gen – Chiromanten348 – Kabbalisten – interessieren uns für Medien. Schwören auf Einstein
– wenn auch relativ. Glaubten an Spengler349 – ohne Konsequenz. Lieben Tagore350 – mit
Kompromiß. Glauben an Jesus – ohne Nachfolge. Und die Therese von Konnersreuth351 ist
uns ein psychologisches, vielleicht ein pathologisches Problem.“352
Wachs esoterisch-religiöser Cocktail bestand somit aus unterschiedlichen Ingredi-
enzien zeitgenössischer Esoterik, war aber auch von einer ständigen Auseinander-
setzung mit dem Christentum, speziell mit der Figur Jesus Christus, geprägt. Dies
zeigt Wachs bildliches Werk mit seiner Vielzahl von Christusdarstellungen, aber
auch in seinen Schriften finden sich zahlreiche Bezugsstellen. In einem vermutlich
in den 1930er-Jahren verfassten, unveröffentlichten Text heißt es beispielsweise:
„Ich liebe Jesus von Nazareth, er ist der ruhende Punkt in der Flucht der Erlebnisse und
Erscheinungen, der Kämpfe und Selbstbesinnung; der moralische kategorische Imperativ,
die allerletzte Instanz.“353
Und tatsächlich: In Wachs ständiger Sinnsuche und seiner Hinwendung zu verschie-
densten Heilswegen blieb die Bezugnahme auf Jesus Christus seine Konstante, wenn
er diesen auch mit wechselnden Deutungen und Rollen belegte. In seinen Tage-
buchaufzeichnungen von 1929 distanzierte er sich beispielsweise von seinen Chris-
tusdarstellungen der frühen 1920er-Jahre:
348 Chiromantie bezeichnet die Handlesekunst, also die Praktik der Schicksalsweissagung auf Basis
der Handlinien. Auch hierzu gab es eine spezielle Interpretation nach Éliphas Lévi, vgl. Miers,
Lexikon des Geheimwissens, 138 f.
349 Spengler, Untergang des Abendlands.
350 Rabindranath Tagore (1863–1941), indischer Dichter und Philosoph, 1913 mit dem Nobelpreis für
Literatur ausgezeichnet.
351 Die aus der bayrischen Gemeinde Konnersreuth stammende Bauernmagd Therese Neumann galt
als katholische Mystikerin, nachdem bei ihr in der Osterzeit 1926 erstmals angeblich die Wund-
male Jesu erschienen waren. Zudem soll sie seit diesem Zeitpunkt ohne Nahrung gelebt haben und
von zahlreichen Visionen heimgesucht worden sein. Vgl. dazu u.a. Benno Karpeles, Konnersreuth,
in: Rudolf Olden (Hg.), Das Wunderbare oder Die Verzauberten. Propheten in deutscher Krise,
Berlin 1932, 37–64.
352 Aloys Wach, Schin, der Herr der Zahl 22. Die Wahrheit über Schloß Aurolzmünster, o.
O. 1933, 8.
353 Bezirksmuseum Herzogsburg Braunau, NL Wach, Aloys Wach, Botschaft von Joh. Philipp Palm?
Ein sonderbarer Bericht, handschriftl. Manuskript, o. D. Dank an Manfred Rachbauer, der mich
auf diesen Text hinwies! Zum politischen Bezug dieses Textes vgl. Kapitel 4.4.3.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463