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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse310
über ihren weiteren Weg klar zu sein, resultierte nicht zuletzt aus dieser lange unge-
lösten Identitätsfrage.
Vergleicht man Alfred Kubins 1903 verfasstes „Weiberfragment“ über weibli-
che Untreue mit Erika Giovanna Kliens Klessheimer Sendboten „Die Treue“ von
1927 zeigt sich die in zwei Jahrzehnten deutlich gewordene Entwicklung von einer
misogyn verankerten Geschlechterordnung der Jahrhundertwende zu einem frau-
enemanzipierten Ansatz der 1920er-Jahre. Traditionellen Geschlechterordnungen
blieb aber auch die emanzipierte Erika Giovanna Klien verhaftet, wenn sie sich –
ernsthaft oder provokativ – am Ende ihres Lebens nach einem alternativen Lebens-
entwurf in konservativer Rollenverteilung sehnte.
Klien taucht in der Analyse auch als Protagonistin im Diskurs um die Geschwin-
digkeit auf. Auch hier steht sie als Vertreterin der Moderne, die im Sinne der itali-
enischen Futuristen Urbanität, Technologie und Beschleunigung begrüßte und in
ihrem Werk umsetzte, ganz im Gegensatz zum Fortschrittsskeptiker Kubin, dessen
Roman „Die andere Seite“ von 1909 in der vorliegenden Studie als Geschichte des
Widerstreits von Moderne und Antimoderne gelesen wurde. Eine fortschrittskep-
tische Haltung findet sich auch in Kokoschkas Autobiographie, die allerdings erst
1971 erschienen ist. Hier ist davon auszugehen, dass Kokoschka die Kritik an Phä-
nomenen der Moderne (sei es in der Kunst oder auch im Bereich der Technologie)
erst in späteren Lebensjahren zu einem wichtigen Thema für sich machte, in zeit-
genössischen autobiographischen Aussagen vor dem Zweiten Weltkrieg findet sich
dieser Bezug weniger deutlich.
Der Diskurs um die beschleunigte Gesellschaft zeigte sich in Künstlerkreisen
auch in der Gegenbewegung des Rückzugs auf das Land. Im Sinne der Lebensre-
formbewegung formierten sich Künstlerkolonien, die bewusst aus der Zivilisation
der Moderne ausstiegen. Auch Alfred Kubin und Margret Bilger wählten den Weg
des Rückzugs in ländliche Regionen, begründet wurde ihr Schritt mit der Wahr-
nehmung einer nervenbelastenden Großstadt. Der Diskurs um die Nerven, seit
Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika und Europa intensiv geführt, steht somit
auch bei ihnen im Zusammenhang mit einer Moderne-Kritik, wie sie der Psychia-
ter George M. Beard formulierte, der in den 1880er-Jahren den Begriff der Neura-
sthenie geprägt hatte. Die Zeiterkrankung Neurasthenie bündelte teils recht unspe-
zifische Krankheitssymptome, die auf eine Überlastung der Nerven zurückgeführt
wurden. Es konnte gezeigt werden, dass gerade in Zusammenhang mit Künstlers-
tereotypen, die KünstlerInnen als besonders feinsinnige Menschen definieren, ein
besonderer Zugang zum Neurasthenie-Diskurs bestand. Der Begriff der Nerven
spielte bei allen in dieser Studie analysierten KünstlerInnen eine zentrale Rolle, am
stärksten bei Alfred Kubin, der sich selbst als „Märtyrer der Nerven“ bezeichnete.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463