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3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten | 311
Auch bei Margret Bilger spielte der Diskurs um die Nerven in Zusammenhang mit
ihren Überlegungen zum Leben in der Stadt und am Land eine Rolle, und selbst die
fortschrittfreundliche Erika Giovanna Klien schrieb von ihren angespannten Ner-
ven, wenn es um Lärm und Geschwindigkeit von New York ging. Kokoschka war
vor allem durch seinen im Ersten Weltkrieg erlittenen shell shock in die zeitgenös-
sische neurologische Debatte biographisch verwoben. In Bezug auf den Nerven-
diskurs sehe ich, auf die konkreten Beispiele bezogen, die These bestätigt, nach der
KünstlerInnen gesellschaftlich mehr Freiräume zugestanden wurden: So galt ein
neurasthenischer Künstler weniger als stigmatisiert denn vielmehr als „Normalfall“
innerhalb seiner sozialen Gruppe.
Zuletzt wurde noch der Diskurs um spirituelle Fragen, im Konkreten der Trend
zu esoterischen Heilslehren behandelt. Die verschiedenen, meist im 19.
Jahrhundert
entwickelten okkulten (geheimen) Heilslehren, scheinen auf KünstlerInnen eine
große Anziehungskraft ausgeübt zu haben. Speziell die theosophische Bewegung
von Helena Blavatsky wurde von KünstlerInnen stark rezipiert. In ihr fanden sich
zahlreiche Versatzstücke indischer Heilslehren. Generell entwickelte sich zu Beginn
des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum ein intensives Interesse für fern-
östliche Philosophie und Spiritualität. Von den in dieser Studie näher untersuchten
Biographien zeigten sich vor allem Alfred Kubin und Aloys Wach tief in diesen Dis-
kurs involviert. Alfred Kubin näherte sich über die Literatur und empfahl seinen
Freunden die wichtigsten Schriften der Mystik, er beschäftigte sich mit Theosophie
und Buddhismus. Der Buddhismus entsprach seiner weltabgeneigten oder „unpoli-
tischen“ Haltung, indem er sich zeitlebens mehr für innere als äußere Angelegenhei-
ten interessierte. Im Fall von Aloys Wach konnte gezeigt werden, dass seine Faszina-
tion für esoterische Lehren – er war besonders geprägt von Éliphas Lévi und dessen
Zugang zur Kabbalistik – den Hintergrund für seine reale Verwicklung in einen
Skandal der österreichischen Zwischenkriegszeit bildete. Wach engagierte sich für
Carl Schappellers Projekt, eine vermeintliche „Urkraft“ zu entdecken. Wachs Enga-
gement und seine literarische Abrechnung mit der letztlich als Betrugsaffäre enden-
den Geschichte sind nur vor dem Hintergrund seiner esoterischen Überzeugungen
dechiffrierbar.
Die Affinität zu neuen und ungewöhnlichen Zugängen im Bereich von Religion
und Spiritualität bei KünstlerInnen darf zum Teil wieder mit einem Künstlerbild
in Vereinbarung gebracht werden, das KünstlerInnen eine nicht-bürgerliche Le-
bensweise gestattete, ja geradezu von ihnen erwartete. Die Zuschreibungen „des
Künstlers“ als feinsinnig und verinnerlicht ebneten ebenso den Weg zu spirituellen
Lebensentwürfen. Das im 19. Jahrhundert gefestigte Bild des „Künstlers als Heils-
bringer“ prädestinierte ihn sogar zu diesbezüglichen Führungsrollen.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463