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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus336
erobert worden, nachdem es 1914 von der russischen Armee eingenommen wor-
den war.77 Kokoschka war somit Teil einer Offensive der k. u. k. Armee, die russi-
sche West- und Südwestfront im Bereich der gefürchteten Prypjatsümpfe weiter zu
durchbrechen. Diese Offensive sollte die k. u. k. Truppen gegenüber der Obersten
Heeresleitung des Deutschen Reichs wieder in eine bessere Position bringen, das
Gegenteil war aber der Fall: Das Vorhaben endete in einem Desaster, bei dem die
k. u. k. Armee insgesamt 230.886 Männer verlor, etwa 100.000 gerieten in russische
Gefangenschaft.78 Etwa zwei Wochen nach seiner Ankunft schrieb Kokoschka an
Loos von einem Zwischenfall, bei dem er erstmals in unmittelbarer Gefahr gewesen
sei. Während einer Patrouille „in dem endlosen Wald und Sumpf hier“ sei er mit sei-
ner Truppe in einen Hinterhalt geraten, bei dem er sich nur knapp auf seinem Pferd
retten können habe. Kokoschka schloss den Brief mit einem Postskriptum: „Nichts
sagen zuhause! Ich bin so froh, daß ich noch lebe.“79
Von dem Vorfall berichtete er – zwei Tage später – auch Albert Ehrenstein.
Die Erzählung des Ereignisses an sich ist ähnlich, aber anders als in dem Brief an
Loos scheint er bereits wieder gefasster gewesen zu sein: „Aber ich habe sehr gute
Nerven und fühle mich, seitdem ich heraußen bin, damisch wohl. Ich bin Kadett
geworden.“80
An die Schwester schrieb er zur selben Zeit Folgendes:
„Dein Brief hat mir eine große Freude gemacht, nur hast du ganz abenteuerliche Vorstel-
lungen vom Krieg, wenigstens wie er hier ist wo ich bin. Wir sitzen rund um einen großen
Wald, hinter Stachelzaun und Deckung, und die Kosaken trauen sich nicht heraus und
werden eines schönen Tages gefangen sein. Von Gefahr ist keine Rede, höchstens dass ich
mir den Magen verderbe, weil ich jetzt so üppig esse, wie es im Hinterland unmöglich ist.“81
Diese eklatante Beschwichtigung der Situation passt in Kokoschkas Bemühen, seine
Familie nicht zu beunruhigen. Den Eltern schrieb er – auch in späteren Karten von
der Isonzofront im Jahr 1916 – vom Aufenthalt in der „Sommerfrische“, berichtete
77 Vgl. Wolfdieter Bihl, Der Erste Weltkrieg 1914–1918, Wien-Köln-Weimar 2010, 112. Vgl. zur Rück-
eroberung Lembergs auch die Polemik von Karl Kraus: „Is denn Lemberg schon wieder noch in
unserem Besitz?“ Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel
und Epilog, Frankfurt am Main 1986 [EA 1922], 4. Akt, 43. Szene im Kriegspressequartier, 546.
78 Vgl. Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, 475.
79 OK an Adolf Loos, [Galizien] 6.8.1915, zit. nach Kokoschka, Briefe I, 226.
80 ZBZ, NL O. Kokoschka, Fasz. 31.27, Feldpostkarte OK an Albert Ehrenstein 8.8.1915, vgl. auch
Kokoschka, Briefe I, 226.
81 OK an Berta Patočka-Kokoschka [Galizien] 8.8.1915, zit. nach Kokoschka, Briefe I, 227.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463