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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus386
des NS-Ideologen Alfred Rosenberg gab die antimoderne und rassistisch orientierte
Richtung vor und Kubin musste durchaus um seine weitere Akzeptanz im Kunst-
betrieb fürchten. Daneben galt seine Sorge auch dem „alten Fragment Österreich“,
was an die schon oben genannte „Beheimatung“ Kubins im (alten) Österreich an-
schließt. Und nicht zuletzt findet sich auch hier die von Kubin stets betonte Selbst-
einschätzung als „völlig unpolitischer Kopf“. Kurz: Kubins Einschätzung der neuen
Situation kreiste vorwiegend um eventuelle Veränderungen, soweit sie direkt in
seine Lebenswelt eingriffen. Mit einer grundsätzlichen Bewertung oder Kritik am
nationalsozialistischen Regime hielt er sich dagegen weitgehend zurück.
Das hat in diesem Fall auch mit dem Adressaten seines Schreibens zu tun: Fritz
Herzmanovsky-Orlando stand der nationalsozialistischen Ideologie zweifelsfrei
nicht ablehnend gegenüber. Seine Briefe an Kubin waren spätestens seit dem Ers-
ten Weltkrieg durchdrungen von deutschnationalen und rassistischen Aussagen, die
ihre ideologische Heimat in einem rechtsgerichteten esoterischen Ideengut hatten.
Sowohl Herzmanovsky-Orlando als auch Kubin hatten – wie bereits gezeigt – eine
Affinität zu okkultistischen Strömungen, deren Welterklärungsmodelle nicht sel-
ten von einer obskuren Rassenideologie durchsetzt und die auch für ein autoritäres
Führerprinzip anfällig waren. Kubin war vor allem in seinen Münchner Jahren in
mehreren Künstlerkreisen der Schwabinger Bohème verankert gewesen, in denen
okkultistische Philosophie, aber auch rechte völkische Ideologien von Einfluss wa-
ren. Als bedeutend muss hier seine Freundschaft mit Rudolf Klages, Alfred Schuler
oder Karl Wolfskehl eingeschätzt werden.231 Noch radikaler und einschlägiger ist
Kubins bereits beschriebenes Interesse für die Ideen des rechten Esoterikers, Ari-
osophen und Begründers des „Neu-Templer-Ordens“ Jörg Lanz von Liebenfels.232
Es ist schwer einzuschätzen, ob und wann Kubin sich von der genannten Ideo-
logie entfernt hat. In seiner Briefkorrespondenz, die er mit so vielen deutschspra-
chigen Intellektuellen pflegte, zeigen sich jedenfalls auch andere Akzente, insofern
als er mit vielen Künstlern und Denkern in Verbindung war, die der nationalsozia-
listischen Ideologie fern standen und teils von unmittelbarer Verfolgung und Emi-
gration betroffen waren, wie der Schriftsteller Stefan Zweig, der Indologe Heinrich
Zimmer oder der Philosoph Salomo Friedländer-Mynona. In einem Brief von 1932
klagte Friedländer angesichts des politischen Machtgewinns der Nationalsozialisten
den herrschenden „Rassenwahn“ an:
231 Vgl. Walter Schmitz/Uwe Schneider, Völkische Semantik bei den „Münchner Kosmikern“ und im
George-Kreis, in: Uwe Puschner/Walter Schmitz/Ulbricht Justus H. (Hg.), Handbuch zur „Völki-
schen Bewegung“ 1871–1918, München, New Providence, London, Paris 1996, 711–746.
232 Vgl. Kapitel 3.3.1.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463