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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus424
tInnen engagiert waren, wurden verfolgt (wenngleich nicht primär als KünstlerIn-
nen, sondern als KommunistInnen oder SozialdemokratInnen), gleichzeitig sollte
eine Distanzierung von der nationalsozialistischen Kulturpolitik erfolgen. Somit
verwundert es nicht, dass gerade zu der Zeit, als Alfred Kubin im nationalsozialis-
tischen Deutschland Probleme bekam, er vom österreichischen „Ständestaat“ be-
sondere Ehrungen erfuhr. Dass er dafür auch bereit war, der Vaterländischen Front
beizutreten, zeigt wieder die Anpassungsfähigkeit des „unpolitischen“ Künstlers.
Der zweifellos massivste Einschnitt erfolgte durch den „Anschluss“ 1938. Die
Kunst- und Kulturpolitik der nationalsozialistischen Herrschaft zeigte sich als
wirkmächtiges Instrumentarium zur Durchsetzung einer antimodernen und ras-
sistischen Ideologie. Durch die Pflichtmitgliedschaft in der Reichskulturkammer
konnten die Künste und die KünstlerInnen nach den vorgegebenen Prinzipien ge-
steuert werden. Widerständigkeit innerhalb des Systems war so gut wie unmöglich,
weswegen die nach 1945 viel strapazierte Haltung der „Inneren Emigration“ zumin-
dest etwas kritischer betrachtet werden sollte. Die Reaktionen der in dieser Studie
untersuchten ProtagonistInnen auf den Nationalsozialismus waren unterschiedlich.
Am nächsten stand der nationalsozialistischen Ideologie wohl Aloys Wach, der al-
lerdings schon 1940 gestorben ist. Sein Werk wurde von der nationalsozialistischen
Kunstpolitik teilweise instrumentalisiert, sein expressionistisches Frühwerk – auch
von ihm selbst – tabuisiert. Wachs Verherrlichung Adolf Hitlers muss in sein mys-
tisch-religiöses System eingeordnet werden. In seiner esoterischen Grundhaltung
konzipierte Wach schicksalhafte Heilsfiguren und konnte damit völlig gegensätzliche
historische Personen besetzen, reichend von Jesus Christus bis Adolf Hitler. Wäh-
rend seine positive Sicht des Nationalsozialismus bisher als Widerspruch zu seinem
Engagement für die linke Münchner Räterepublik betrachtet wurde, lässt sich über
den religiös-esoterischen Diskurs ein Erklärungsmodell finden. Der in dieser Studie
verfolgte Ansatz, die politischen Haltungen der KünstlerInnen unter breitem Zugriff
auf ihre Verbundenheit in anderen, vermeintlich unpolitischen Diskursen der Zeit
zu fassen, erwies sich in diesem Zusammenhang als gewinnbringend. Auch bezüg-
lich Alfred Kubins ambivalenter Haltung zum Nationalsozialismus konnte hinsicht-
lich seiner herausgearbeiteten Verankerung in völkisch-esoterischen Diskursen in
den beiden ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts ein differenzierterer Zugang ge-
wonnen werden. Kubin wurde bislang eher als Gegner oder Opfer der NS-Kulturpo-
litik betrachtet, wohl weil sein Werk nicht eindeutig einzuordnen ist und er zudem
mit einer Frau verheiratet war, die nach Nürnberger Rassegesetzen als „Mischling
1. Grades“ galt. Übersehen wurde dabei vielfach Kubins starke Bejahung rechtsvöl-
kischer Ideologie bis mindestens in die frühen 1920er-Jahre hinein. Zweifellos war
Kubin kein Befürworter der nationalsozialistischen Ideologie und Herrschaft – da-
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Title
- Zeitwesen
- Subtitle
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Author
- Birgit Kirchmayr
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Size
- 17.3 x 24.5 cm
- Pages
- 468
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463