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4. Was ist ästhetischer Formalismus? – Definition, Geschichte, Vertreter
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kann, aber selbst keinen andern hat, als sich selbst“ (VMS ²1858, S. 26). Hans-
licks Auslegung der ästhetischen Wahrnehmung beinhaltet ebenfalls kanti-
sche Anklänge: „Das Organ, womit das Schöne aufgenommen wird, ist nicht
das Gefühl, sondern die Phantasie, als die Thätigkeit des reinen Schauens“
(VMS, S. 28). Die kontemplative Kunsterfahrung wird auch von der geistigen
Reflexion und der emotionalen Ergriffenheit dezidiert geschieden, was die
Kant’sche Trennung von reflektierendem Geschmacksurteil und begrifflicher
Bestimmung präsent werden lässt: „In reiner Anschauung genießt der Hörer
das erklingende Tonstück, jedes stoffliche Interesse muß ihm fern liegen. Ein
solches ist aber die Tendenz, Affecte in sich erregen zu lassen. Ausschließli-
che Bethätigung des Verstandes durch das Schöne verhält sich logisch anstatt
ästhetisch, eine vorherrschende Wirkung auf das Gefühl ist noch bedenklicher,
nämlich geradezu pathologisch“ (VMS, S. 29).
Aus diesen relativ isolierten Parallelen, deren historische Einbettung ich
nun genauer erörtere, folgerte Patricia Carpenter, dass Hanslicks „general
aesthetic“ aus Kants Kritik der Urteilskraft stamme.957 Trotz evidenter Analo-
gien muss aber deutlich gemacht werden, dass jene historisch bedeutende Kon-
zeption des interesselosen Wohlgefallens keineswegs ursprünglich auf Kants
Lehre basiert.958 ‚Disinterested contemplation‘ ist ein schon früher verbreite-
ter Bestandteil des englischsprachigen Ästhetikdiskurses, der sich wohl mit
Anthony Ashley- Cooper, Third Earl of Shaftesbury (1671–1713), und Francis
Hutcheson (1694–1747) erstmals formiert hat und die moderne Debatte weiter-
hin dominiert:959 „The concept of aesthetic ‚disinterest‘ was perhaps the most
distinctively original contribution that English writers of the period made to
aesthetic theory.“960 Diese Idee ist vor allem durch Jerome Stolnitz detailliert
ausgelotet worden, welcher ebenfalls bemerkte, dass Ashley-Cooper „the first
957 Carpenter, „Form and Idea“ (wie Anm. 247), S. 408f. Vgl.: Jean-Jacques Nattiez, „Hans-
lick: The Contradictions of Immanence“, in ders., The Battle of Chronos and Orpheus: Essays
in Applied Musical Semiology, übers. von Jonathan Dunsby, Oxford/New York 2004,
S. 105–126, hier S. 110–112.
958 Für die relevanten Differenzen von Kants Lehre und modernen Versionen des interesse-
losen Wohlgefallens vgl.: Nick Zangwill, „UnKantian Notions of Disinterest“, in BJA
32/2 (1992), S. 149–152.
959 George Dickie, Introduction to Aesthetics: An Analytic Approach, New York/Oxford ²1997,
S. 12–15; Reed, „Debt of Disinterest“ (wie Anm. 952), S. 563f.; Noël Carroll, „Aesthetic
Experience Revisited“, in BJA 42/2 (2002), S. 145–168, hier S. 149f.; Jerrold Levinson,
„Philosophical Aesthetics: An Overview“, in ders., Handbook of Aesthetics (wie Anm.Â
384),
S. 3–24, hier S. 9; Richard Eldridge, An Introduction to the Philosophy of Art, Cambridge
2003, S.Â
50; Paul Guyer, „Eighteenth-Century Aesthetics“, in Davies u.a., Companion Aes-
thetics (wie Anm. 855), S. 32–51, hier S. 33; Philip Alperson, „Music Education“, in
Gracyk/Kania, Philosophy and Music (wie Anm. 155), S. 614–623, hier S. 617.
960 Huray, „Role of Music“ (wie Anm. 942), S. 93.
Re-Reading Hanslick's Aesheticts
Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Titel
- Re-Reading Hanslick's Aesheticts
- Untertitel
- Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Autor
- Alexander Wilfing
- Verlag
- Hollitzer Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-99012-526-7
- Abmessungen
- 16.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 434
- Schlagwörter
- Eduard Hanslick, Formalismus, Musikästhetik, Musik und Gefühl, Emotionstheorie, analytische Philosophie, New Musicology, Immanuel Kant, Peter Kivy, Stephen Davies, Edmund Gurney, Adam Smith
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 7
- Vorwort und Inhalte 9
- 1. Tendenzen und historische Entwicklung der Hanslick-Forschung 17
- 1.1. Die historische Forschung zu Hanslicks VMS-Traktat 20
- 1.2. Hanslick und die ‚idealistische‘ Philosophie 25
- 1.3. Hanslick und die ‚österreichische‘ Philosophie 35
- 1.4. Die soziokulturelle Kontextualisierung von Hanslicks VMS-Traktat 48
- 1.5. Die bisherige Forschung zur historischen Hanslick-Rezeption 62
- 1.6. Anhang – Hanslicks „tönend bewegte Form[en]“ 75
- 2. These und Exkurs: Hanslick Methodik – Ästhetik versus Kritik 83
- 3. Die historische Entwicklung der anglophonen Hanslick-Rezeption 117
- 3.1. Die erste englische Ãœbersetzung von Hanslicks VMS-Traktat 120
- 3.2. Erste Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Differente Hanslick- Diskurse 125
- 3.3. Die anglophone Musikästhetik im 18. Jahrhundert: Beattie und Smith 136
- 3.4. Zweite Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Gurneys Power of Sound 146
- 3.5. The Beautiful in Music (1891) und On the Musically Beautiful (1986) 159
- 3.6. Anhang – Hanslick’sche Rezensionen in Dwight’s Journal of Music 176
- 4. Was ist ästhetischer Formalismus? – Definition, Geschichte,Vertreter 179
- 5. Hanslick und die analytische Philosophie: eine produktive Rezeption 253
- Literaturverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis 329
- Quellentexte (Deutsch) 329
- Quellentexte (Englisch) 332
- Forschungsliteratur 333
- Namensindex 423