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5. Hanslick und die analytische Philosophie: eine produktive Rezeption
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Dieses Argument Hanslicks hat in der analytischen Musikästhetik merk-
liche Resultate gezeitigt und bedeutende Denkfiguren angestoßen: das
‚our-song-phenomenon‘ und die ‚heresy of the separable experience‘. Kivy hat
die erste Idee, die er aus Hanslicks VMS-Traktat direkt bezog,1523 zur Kritik
der strikten ‚arousal theory‘ und der von ihr forcierten Tendenz, in subjektive
Annahmen auszuarten, mehrfach verwendet. Ein Teil der affektiven Reakti-
onen auf ‚reine‘ Musik basiere nämlich auf individuellen gedanklichen Ver-
knüpfungen des spezifischen Musikstücks mit biographischen Begebenheiten:
„the music might, because of those special circumstances, or that particular
emotional state [beim ersten Hören], arouse a very real emotion like melan-
choly or cheerfulness in the listener.“1524 Wenn ein Werk für den betreffenden
Rezipienten mit freudigen Erlebnissen verbunden ist – etwa weil diese Musik
bei dem ersten Tanz mit der späteren Partnerin gespielt worden ist –, beruht
die positive Wirkung der Musik auf zufälligen Umständen, die mit dem Ge-
halt des Objekts nichts gemein haben. Der ‚Fakt‘, dass eine affektive Erregung
durch ‚reine‘ Musik oft auf „idiosyncratic associations“ bauen würde, wäre
auch eine „additional reason for rejecting the arousal theory altogether as a
theory of musical expressiveness. […] such advances are simply answers to a
set of questions that are different from the question of musical expression.“1525
Kivy irrt sich aber, wenn dieser assoziative Mechanismus von ihm mit Hans-
licks Definition ‚pathologisch‘ identifiziert wird. Denn wenn dieser Begriff
auch biologisch konnotiert ist,1526 meint dieser trotz allem das passive Erfassen
des akustischen Erlebnisses, das mit der ästhetischen Hörleistung kontrastiert
wird, die aktiv agiert.1527 Kivys These ist mit konkreten Beispielen sicherlich
plausibler darzulegen: Dass mich der 2. Satz von Bachs Suite Nr. 3 BWV 1068
traurig stimmt – und nicht ruhig, besinnlich, deprimiert –, könnte daran lie-
gen, dass mit ihm die Beerdigung eines Verwandten musikalisch ausgestaltet
wurde; dass Bachs Stück für diesen Anlass geeignet erscheint, ist davon jedoch
vollkommen unabhängig und durch dessen immanente musikalische Eigen-
schaften und expressive Disposition bestimmt. Analytische Philosophen wei-
1523 Kivy, Introduction to Philosophy (wie Anm. 356), S. 23. Diese These sei von den britischen
Empiristen (Hobbes, Locke, Hume) prominent vertreten, aber erst durch Hanslick musi-
kalisch angewendet worden: ders., Corded Shell (wie Anm. 673), S. 29–33.
1524 Kivy, Introduction to Philosophy (wie Anm. 356), S. 111. Vgl.: Ridley, „Expression“ (wie
Anm. 1508), S. 219; Derek Matravers, „Arousal Theories“, in Gracyk/Kania, Philosophy
and Music (wie Anm. 155), S. 212–222, hier S. 212; Naar, „Art and Emotion“ (wie
Anm. 1514), Kap. 3a.
1525 Kivy, Corded Shell (wie Anm. 673), S. 30.
1526 Blaukopf, Empiristische Musikforschung (wie Anm. 90), S. 100–102.
1527 Payzant, „‚Moral‘ Effects“ (wie Anm. 455), S. 86f.; ders., Sixteen Lectures (wie Anm. 12),
S. 86 und 143; Landerer, Hanslick und Bolzano (wie Anm. 27), S. 61.
Re-Reading Hanslick's Aesheticts
Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Titel
- Re-Reading Hanslick's Aesheticts
- Untertitel
- Die Rezeption Eduard Hanslicks im englischen Sprachraum und ihre diskursiven Grundlagen
- Autor
- Alexander Wilfing
- Verlag
- Hollitzer Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-99012-526-7
- Abmessungen
- 16.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 434
- Schlagwörter
- Eduard Hanslick, Formalismus, Musikästhetik, Musik und Gefühl, Emotionstheorie, analytische Philosophie, New Musicology, Immanuel Kant, Peter Kivy, Stephen Davies, Edmund Gurney, Adam Smith
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Danksagung 7
- Vorwort und Inhalte 9
- 1. Tendenzen und historische Entwicklung der Hanslick-Forschung 17
- 1.1. Die historische Forschung zu Hanslicks VMS-Traktat 20
- 1.2. Hanslick und die ‚idealistische‘ Philosophie 25
- 1.3. Hanslick und die ‚österreichische‘ Philosophie 35
- 1.4. Die soziokulturelle Kontextualisierung von Hanslicks VMS-Traktat 48
- 1.5. Die bisherige Forschung zur historischen Hanslick-Rezeption 62
- 1.6. Anhang – Hanslicks „tönend bewegte Form[en]“ 75
- 2. These und Exkurs: Hanslick Methodik – Ästhetik versus Kritik 83
- 3. Die historische Entwicklung der anglophonen Hanslick-Rezeption 117
- 3.1. Die erste englische Ãœbersetzung von Hanslicks VMS-Traktat 120
- 3.2. Erste Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Differente Hanslick- Diskurse 125
- 3.3. Die anglophone Musikästhetik im 18. Jahrhundert: Beattie und Smith 136
- 3.4. Zweite Konsequenz aus Poles Ãœbersetzung: Gurneys Power of Sound 146
- 3.5. The Beautiful in Music (1891) und On the Musically Beautiful (1986) 159
- 3.6. Anhang – Hanslick’sche Rezensionen in Dwight’s Journal of Music 176
- 4. Was ist ästhetischer Formalismus? – Definition, Geschichte,Vertreter 179
- 5. Hanslick und die analytische Philosophie: eine produktive Rezeption 253
- Literaturverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis 329
- Quellentexte (Deutsch) 329
- Quellentexte (Englisch) 332
- Forschungsliteratur 333
- Namensindex 423