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1871
Lösch, 6. Mai 1871
Der nun auch bereits verstorbene Graf Emil [Dessewffy], der Verfasser des
Oktober-Diploms, erzählte mit vor einigen Jahren über das Zustandekom-
men desselben Folgendes: „Zwei Tage vor seiner Abreise nach Warschau zu
einer Zusammenkunft mit dem Kaiser von Russland – die, wenn ich nicht
irre, am 18. Oktober erfolgte – beschied Kaiser Franz Joseph einige her-
vorragende Mitglieder des kurz vorher geschlossenen verstärkten Reichs-
rats zu sich und erklärte ihnen, er habe sich zu Konzessionen im Sinne der
Majorität desselben entschlossen, und beauftrage sie, denselben in einer
entsprechenden Urkunde und einem Manifest an die Völker Österreichs
Ausdruck zugeben. Dies müsse jedoch noch vor seiner Abreise fix und fer-
tig sein, da es nicht den Anschein gewinnen dürfe, als sei ihm dies bei der
Warschauer Konferenz abgerungen worden. Auf die bestürzte Antwort, ein
Akt von so folgenschwerer Wichtigkeit und Konsequenzen lasse sich nicht
so über Nacht in die passende Form und Worte kleiden, erheische reiflichs-
tes Nachdenken und gründlichste Beratung etc., erwiderte er: ‚Entweder
es geschieht gleich und noch vor meiner Abreise, oder es geschieht gar
nicht.‘
Vor diese Alternative gestellt, blieb keine Wahl, und die Berufenen mach-
ten sich an die Arbeit.
In der Nacht vor des Kaisers Abreise befanden sich denn die Verfasser
des Oktober-Diploms, des Manifests und [die Verfasser] der die Minister-Er-
nennung enthaltenden kaiserl[ichen] Handschreiben in der Wohnung des
G[ra]f[e]n Emil Dessewffy zu Wien, Kärntnerstraße, Hotel zum Erzh[er]
z[o]g Karl, um die aus der Staatsdruckerei eingelangten Bürstenabzüge mit
den vom Kaiser gefertigten Original-Urkunden zu vergleichen und zu korri-
gieren. Alles verlief ganz ordnungsgemäß bis zu den Handschreiben, unter
welchen ganz unerwartet und im diametralsten Widerspruch mit dem Geist
und Wortlaut des Diploms und zum wahren Entsetzen der Anwesenden ein
Handschreiben des Inhalts zur Verlesung kam: ‚Mein lieber H[err] von Las-
ser! Ich ernenne Sie zu meinem Justiz-Minister.‘ – Nach einer langen Pause
peinlichster Gefühle, starrer Verwunderung und Täuschung, da nun der Er-
folg des ganzen Aktes gegenüber von Ungarn vernichtet war, wanderte das
verhängnisvolle Schriftstück durch alle Hände zu genauster Prüfung seiner
Echtheit. Es trug indes die kaiserliche eigenhändige Unterschrift und alle
Merkmale derselben. Dennoch ward beschlossen, das Äußerste zu tun, sich
volle Gewissheit zu verschaffen. Und der anwesende eben ernannte Minister
Graf Anton Szécsen telegraphierte die Frage nach Schönbrunn an den Kai-
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Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894
- Titel
- Die Tagebücher des Grafen Egbert Belcredi 1850–1894
- Autoren
- Lothar Höbelt
- Johannes Kalwoda
- Herausgeber
- Jiří Malíř
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20067-3
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 1144
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort und Editionsrichtlinien 7
- Siglen- und Abkürzungsverzeichnis 11
- Lothar Höbelt: Graf Egbert Belcredi – der „echte“ Konservative 15
- Jiří Malíř: Antonín Okáč – Leben und Werk des Herausgebers der
- Tagebücher und Korrespondenz Egbert Belcredis 39
- Bildtafeln 65
- Tagebuchaufzeichnungen 73
- 1850 75
- 1851 91
- 1852 104
- 1853 126
- 1854 145
- 1855 156
- 1856 170
- 1857 182
- 1858 189
- 1859 193
- 1860 195
- 1862 199
- 1863 212
- 1864 223
- 1865 255
- 1866 262
- 1867 307
- 1868 339
- 1869 353
- 1870 355
- 1871 356
- 1872 367
- 1873 375
- 1874 384
- 1875 400
- 1876 449
- 1877 497
- 1878 504
- 1879 530
- 1880 565
- 1881 589
- 1882 611
- 1883 653
- 1884 700
- 1885 728
- 1886 770
- 1887 793
- 1888 838
- 1889 881
- 1890 905
- 1891 945
- 1892 979
- 1893 1016
- 1894 1042
- Anhang 1059
- Anhang 1: Promemoria Graf Egbert Belcredis: Ideen zu einer
- Reform des Adels 1059
- Anhang 2: Promemoria Egbert Belcredis [zum Vaterland] 1067
- Anhang 3: Promemoria Graf Egbert Belcredis für den Brünner
- Bischof Franz Bauer 1074
- Wiederkehrende Wörter und Wendungen 1079
- Tschechisch 1079
- Lateinisch 1081
- Ortsnamenkonkordanz 1082
- Deutsch – Tschechisch 1082
- Tschechisch – Deutsch 1086
- Literatur und Nachschlagewerke 1091
- Namensregister (Auswahl) 1115