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Rahmenbedingungen28
Drittens beschränkte sich das kriegseuphorische Stimmen- und Stimmungsge-
flecht auf den Mittelstand (Kleinbürgertum) und auf das akademische Milieu der
kriegführenden Staaten (= Berufs- und Ausbildungsfaktor). Für die Intellektuel-
len unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht oder ihrer Konfession war der
„Hurrapatriotismus“ nahezu handlungsbestimmend.62 Ferner zeigten sich viele
Gymnasiasten vom Krieg „beeindruckt“ – zumindest anfänglich. Das Wissen dar-
über besteht seit Langem, nur dürfen die Einstellungen dieser – wenngleich ebenso
vielschichtigen, so doch quantitativ marginal ausfallenden – Gruppe nicht verallge-
meinert werden. Stattdessen gilt es provisorisch zwischen Hegemonie und Demos-
kopie (bzw. Demografie) zu unterscheiden, sodass die Gefahr einer unschlüssigen
Generalisierung einigermaßen im Zaum gehalten werden kann. In der städtischen
Arbeiterschaft (exklusive der hohen Parteifunktionäre, darunter einiger Frauen)
herrschten mehr Erwartungsängste als klassisch kriegseuphorische Ansätze vor.
Und diese Gruppe stellte zusammen mit der Landbevölkerung die überwiegende
Mehrheit der Bevölkerung (in allen Kriegsstaaten) dar.
Viertens war das kriegseuphorische Stimmen- und Stimmungsgeflecht in der
Regel bei Männern höher als bei Frauen (=
geschlechtsspezifischer Faktor). Beson-
ders ärmere Frauen, ältere Frauen, arbeitslose Frauen, schwangere Frauen sowie
Frauen auf dem Land zeigten sich kaum bis gar nicht erfreut über den Kriegs-
beginn. Bäuerinnen beispielsweise, deren Männer vielfach einrücken mussten,
verspürten in einer Zeit, als die Ernte im Gang war oder unmittelbar bevorstand,
Angst und Sorge über die Existenz des Hofes. Aufgrund der Abwesenheit der Ehe-
männer lag nun der Hof ausschließlich in ihren Händen. Sie mussten sich nicht
nur gegen die Knechte und Mägde behaupten, sondern sie mussten auch mit den
militärischen Requisitionen zurechtkommen. Insbesondere das Abgeben von Tie-
ren an die Armee führte oftmals zu Existenzängsten. Obendrein konnten die Bäue-
rinnen nicht abschätzen, wie der vom Krieg heimkehrende Mann reagieren würde,
wenn er erfahren musste, dass in seiner Abwesenheit ein Teil der Tiere oder der
Ernte aus der Hand gegeben worden war (letztendlich gegeben werden musste).
Nicht minder belastend war die ständige Frage, ob und, bzw. wenn ja, in welchem
körperlichen Zustand der Mann zurückkommen werde.
Fünftens war das kriegseuphorische Stimmen- und Stimmungsgeflecht bei jun-
gen Männern und jungen Frauen ungleich höher bzw. lauter als bei älteren Per-
sonen (= generativer Faktor). Es sei denn, es handelte sich um Personen aus dem
akademischen Milieu, wie zum Beispiel Universitätsprofessoren und Universitäts-
62 Ausführlich dazu: Roshwald/Stites (1999). Für Österreich-Ungarn: Sauermann (2000).
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453