Page - 30 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Rahmenbedingungen30
und von jungen, bürgerlichen Männern und Frauen getragene „Julibegeisterung“
(für einen fremden, sprich habsburgischen, Krieg) und eine im Verhältnis zur
„Julibegeisterung“ geringere und ebenfalls begrenzte „Augustbegeisterung“ (für
„das“ deutsche Einheitserlebnis) festgestellt werden.70 Dieser Befund deckt sich
weitgehend mit den Stimmungen im gesamten Deutschland, zumal die ersten
Augusttage mehr von Ernst, Entschlossenheit, Besonnenheitsbestrebungen und
Unsicherheit geprägt waren als von Begeisterung im freudig jubelnden Sinne.71
Ähnliches trifft auf Großbritannien zu. Denn auch dort hob sich – wenngleich
zeitversetzt – das kriegseuphorische Stimmen- und Stimmungsgeflecht vor dem
eigenen Kriegseintritt (4. August) erheblich von dem danach ab.72 Für Tirol ak-
zentuiert Oswald Überegger den mehrdimensionalen „Septemberschock“73 von
1914, als am Bahnhof die „Schrecken“ des Kriegs nicht mehr zu übersehen waren.
Allerdings darf bei diesen regional verorteten Zeitrastern nicht vergessen werden,
dass sich in ein und derselben Person mehrere Gefühlsregungen breit machen
konnten. Die „Ambivalenz der Gemütslagen“74, in der entgegengesetzte Stimmun-
gen nebeneinander existierten oder einander wenigstens schnell ablösen konnten,
verdeutlichen ebenso die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wie die Tatsache,
dass manche, wenngleich wenige Menschen erst mit Voranschreiten der Zeit „be-
geistert“ wurden. Daran zeigt sich sinnbildlich, dass nicht von einem gesellschaftli-
chen Großvorrat an „Kriegsbegeisterung“, der mit der Zeit immer weniger wurde,
auszugehen ist. Zutreffender ist die Einnahme einer Perspektive, die mittels einiger
Faktoren das kriegseuphorische Stimmen- und Stimmungsgeflecht eingrenzt, aber
die sich ebenso darüber im Klaren ist, dass im Zuge der anstrengenden Selbstmo-
bilisierung und im Rahmen des „Durchhaltens“ neue, wenngleich wenige, kriegs-
euphorische Momente (z. B. in Folge von Siegesmeldungen) entstehen konnten.
Nach wie vor als sehr schwierig erweist sich der Blick auf den Komplex aus Spi-
ritualität, Religion und Konfession (=
konfessioneller Faktor). Es ist zwar klar, dass
bestimmte Formen der Gewaltanwendung religiös legitimiert wurden (meistens
rückwirkend legitimiert wurden). Die Frage, ob Gewaltaktionen auch religiös mo-
tiviert waren, bleibt dagegen ungeklärt.75 Ferner ist die Frage, wie sich die Spiritua-
70 Geinitz (1998).
71 Verhey (2000), 130 f.
72 Strandmann (2011), 59.
73 Begriff nach Oswald Überegger (2002), 263.
74 Begriff nach Christian Geinitz und Uta Hinz (1997), 26.
75 Die dahintersteckende Problematik beleuchtet Matthias Pohlig in seinem Aufsatz „Religiöse Ge-
walt? Begriffliche Überlegungen an Beispielen des konfessionellen Zeitalters“ (ca. 1550–1650),
vgl. Pohlig (2015).
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453