Page - 41 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Mikrohistorie | 41
bin ich davon überzeugt, dass meine Wortwahl nicht dem „Newspeak“125 aller For-
scher und Forscherinnen entspricht. Im Folgenden werden sieben vielfach erst mit
der Zeit gewonnene Forschungsstrategien zur Beantwortung der beiden Fragenbe-
reiche dargelegt. Die numerische Auffächerung der folgenden sieben Methoden-
stränge ist weder vollständig, noch ist sie mit einer chronologischen Abfolge der
Forschungsschritte zu verwechseln, zumal es eine solche nur bedingt gab.
Erster Methodenstrang: Die schleifende Beobachtungszeit umspannt die Wo-
chen rund um den Kriegsbeginn 1914. Der Beobachtungsraum126 umfasst generell
die Grazer Straßen, Plätze, Parkanlagen, Bahnhöfe, Geschäfte, Märkte, Gast- und
Kaffeehäuser127, Geldinstitute128, Kinos und Sakralbauten. Andere Orte, wie bei-
spielsweise das „Privatleben“ in den Mietskasernen, Wohnhäusern, Villen und
Kasernen (sprich jene Räume, die während des Kriegs einmal schneller, einmal
langsamer zu Orten des Hungers, der Einsamkeit, der Kälte und der Dunkelheit
wurden), blendete ich bereits im Vorfeld aus. Zusätzlich zu den sechs Grazer Stadt-
bezirken wurden die nach dem „Anschluss“ 1938 mit der Stadt Graz fusionierten
Gemeinden nuanciert berücksichtigt. Hierbei handelt es sich um die „Vororte“/
„Umgebungsgemeinden“ Andritz, Gösting, Liebenau, St. Peter, Waltendorf, Ries,
Eggenberg, Wetzelsdorf, Straßgang und Fölling (Mariatrost), die jeweils eigene
Gemeindevertretungen hatten.129 Dass ich nicht in die Wohnungen oder in die Fa-
briken schaute, resultiert lediglich aus methodischen und forschungspraktischen
Gründen. Schließlich verwehrten mir die hier herangezogenen Quellen einen Blick
in das Schlafzimmer oder auf die Gespräche am Esstisch bereits im Vorfeld. Aus
diesem Grund musste auch die Frage, wie man etwa von der Kriegsbegeisterung
oder dem Burgfrieden träumte (!), ausgespart werden.130 Einseitig ausfallende Ant-
125 Ich verweise hier auf das Wörterbuch „Newspeak“ aus George Orwells Roman „1984“, das vor-
schreibt, was wie noch gesagt und zitiert werden darf [Nicht im Literaturverzeichnis angeführt].
126 Die unterschiedlichen Raumkonzeptionen schufen mittlerweile ein „rhetorisches Minenfeld“.
Mein implizit bleibendes Verständnis von „Raum“ gilt für viele innerhalb der „Historikerzunft“
als antiquiert. Ich fühle mich jedoch nicht dazu in der Lage, in meiner Einleitung eine Raumkon-
zeption zu postulieren, die ich auf den hinteren Seiten meiner Arbeit nicht einhalten kann. Neu-
ere Raumkonzepte (Historisierung, Systematik, Pragmatik etc.) finden sich in: Günzel (2010).
Der Begriff „rhetorical minefield“ („rhetorisches Minenfeld“) stammt aus: Winter (1999), 5.
127 Wie Bierhallen, Gasthöfe, Schankstätten, Kneipen, Lauben, Cafés und Konditoreien.
128 Wie Sparkassen, Raiffeisenkassen, Banken mit oder ohne Aktienkapital sowie Postämter.
129 Die Kooperationen sowie die Konflikte zwischen Graz und seinen „Vororten“ wurden noch nicht
hinreichend analysiert.
130 Träume sind bekanntlich geschichtsmächtige Faktoren. Man denke hier nur an den Aufsatz „Ter-
ror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich“ von: Ko-
selleck (72010c).
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453