Page - 57 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Vier Leitpanoramen | 57
tungen, Kirchen, die katholische Frauenorganisation, die Abstinenzbewegung so-
wie einige karitative Vereine präsent, konnte aber nur wenig an der Grazer Stadt-
politik partizipieren.199 Im Gegensatz zu Wien, wo Karl Lueger und die
christlichsoziale Partei bereits vor 1900 erfolgreich waren, konnte die christlichso-
ziale Bewegung in Graz nur sehr zaghaft Fuß fassen. Die Grazer christlichsoziale
Partei gründete sich erst einige Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs (und sie
zog erst 1917 in den Gemeinderat ein).200 Als ebenso niedrig erwies sich die Zahl
der katholischen Studentenverbindungen201 im Verhältnis zu den viel früher ge-
gründeten (deutschnationalen) Burschenschaften.202 Das Grazer Hochschulwesen
war deutschnational und antiklerikal. Ganz anders verhielt es sich mit den Christ-
lichsozialen in den ländlichen Regionen der Steiermark. Dort brachte man ihnen
eine enorme Zustimmung entgegen, die sich auch im Ergebnis der Reichsratswahl
von 1911 niederschlug. Damals erhielten die Christlichsozialen zwölf Mandate
(von insgesamt 30 für die Steiermark möglichen Mandaten).203 Auf Grazer Ge-
meinderatsebene konnten sie keine derartigen Erfolge einfahren, zumal das poten-
tiell christlichsoziale Milieu (das Kleinbürgertum, das Gewerbe, der Mittelstand)
weitgehend deutschnational gestimmt war.204 Verfolgt man die Geschichte der ein-
zelnen politischen Milieus, erkennt man schnell, dass keines von ihnen je ein ab-
geschlossener, monolithischer Block war.205 Das gilt für das deutschnationale, das
klerikal-konservative und das sozialdemokratische Milieu gleichermaßen.206 Im
199 Ich denke hier an den „Schutzengelbund“, den „Vinzenz-Verein“, den „Odilien-Verien zur Für-
sorge für die Blinden der Steiermark“, den „Bonifatius-Verein“, das „Katholische Kreuzbündnis“
und an das „Haustheater des katholischen Gesellenvereins“.
200 Marauschek (1998), 44; Hubbard (1984), 126.
201 Zu nennen sind: Carolina (seit 1888), Babenberg (seit 1908), Traungau (seit 1908).
202 Kornberger (2001); Höflechner (22009), 67–81; Hubbard (1984), 119 f. Im Wintersemester
1913/14 waren an der Universität Graz 1.962 Studenten und 108 Studentinnen eingeschrieben.
An der Technischen Hochschule studierten 702 Studenten. Zahlen nach: Kernbauer (2015), 16.
203 Die christlichsoziale Partei war in den Jahren von 1907 bis 1911 die stimmenstärkste Partei im
Abgeordnetenhaus des (cisleithanischen) Reichsrats.
204 Aus diesem Grund greife ich auch primär auf die sozialdemokratische Zeitung (den Arbeiterwil-
len) und die deutschnationalen, radikal deutschnationalen und alldeutschen Publikationsorgane
zurück (Tagespost, Grazer Tagblatt, Grazer Mittags-Zeitung, Deutsche Zeitung, Grazer Voror-
tezeitung, Grazer Wochenblatt). Begriffe wie „Kleinbürgertum“, „Mittelstand“ und „Bürgertum“
sind diffus und können leider nie zufriedenstellend definiert werden. Ich habe mich dazu ent-
schieden, sie absichtlich undefiniert in der Schwebe hängen zu lassen.
205 Moll (2007a); (2007b) und (2006b).
206 Man denke hier nur an die sozialdemokratischen Machtverhältnisse zwischen Partei, Zeitungen,
Vereinen, Frauenbewegung, Abstinenzbewegung, Kinder- und Jugendbewegung, Wohngenos-
senschaften, Konsumgenossenschaften, Arbeiter-Unfallversicherungen, Arbeiterkrankenkassen,
Gewerkschaften und Wählerschaft. Auseinandersetzungen gab es auch mit dem freisozialisti-
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453