Page - 77 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache | 77
heit), feste Entschlossenheit, stiller Ernst, aufopfernde Hingabe oder (emotionale)
Erregung bedeuten konnte.38 Im Wesentlichen stellt dieser begriffsgeschichtliche
Ansatz den zentralen Schlüssel für das Verständnis der Kriegsbegeisterung von
1914 dar. Das bedeutet aber nicht, dass es in Graz zu Ausbruch des Weltkriegs
keine Jubel- und Freudenstimmungen gegeben hatte. Der freudig-unbedenkliche
„Hurrapatriotismus“ war zu Kriegsbeginn 1914 kaum zu übersehen. Dennoch
steht außer Frage, dass die Zeitungen bereits lange vor 1914 den Begriff „Kriegs-
begeisterung“ sowie den Begriff „Begeisterung“ kannten. Genauer gesagt setzten
sie diese beiden Begriffe massiv ein: „Es ist nicht anzunehmen, daß Sektionschef
[... Mauritz von Rößler] seine Intervention nicht aus irgendeiner Begeisterung für
ein tschechisches Unternehmen gemacht hätte, sondern infolge seines aufrichten
Wohlwollens für die österreichische Industrie überhaupt, ohne Unterschied der
Nationalität.“39 Man muss nicht die genaue Geschichte hinter diesem böhmischen
Vorfall kennen, um zu sehen, dass hier der Begriff „Begeisterung“ ein wenig irri-
tiert (zumindest auf den ersten Blick hin). Immer dann, wenn die politische Sphäre
– zu der die damaligen Tageszeitungen gehörten – positiv über eine politische Ent-
scheidungssituation oder Willensbildung berichteten, griffen sie auf die Begriffe
„Zustimmung“, „Bewegung“, „Erregung“ oder „Begeisterung“ sowie auf deren je-
weilige Abwandlungen („zustimmend“ usw.) zurück. Erkennbar wird der Konnex
zwischen diesen Begriffen vor allem in der Art und Weise, wie die Zeitungen be-
stimmte Reden diverser Politiker und Politikerinnen wörtlich wiedergaben. Wie
bekannt, druckten die Zeitungen mehrmals die Reden ihrer eigenen oder gegneri-
schen Parteileute, die zum Beispiel in den politischen Gremien (Reichsrat, Landtag,
Gemeinderat), an Festtagen (1. Mai, Katholikentag, Fronleichnam, Sedanfeier), bei
Denkmalsetzungen, im Streik oder bei Wahlkampfveranstaltungen gehalten wur-
den. Die Verschriftlichung dieser Reden (sofern der Wortlaut überhaupt richtig
wiedergegeben wurde, was sicherlich nicht jedes Mal vorkam) wurde vor ihrer
Veröffentlichung auch dahingehend modelliert, dass man versuchte, die während
der Rede vorherrschende Publikumsstimmung zu beschreiben. Ausgewiesen wur-
den diese von staatlichen Stenographen/Protokollanten40 oder von Parteijour-
nalisten hinzugefügten „Stimmungslagen-Ausweise“, indem man eine Klammer
setzte. Diese Klammer sperrte einen Text, der dann dem Leser oder der Leserin
vermittelte, wie die Rede von der (aktiven) Zuhörerschaft „aufgenommen“ wurde.
38 Siehe das Kapitel: Forschungsstand.
39 Die Vorgeschichte des Besuches des Abg. [Josef] Brdlik bei [Vilmos] Kestranek, in: Grazer Volks-
blatt, 7.9.1908 (Abendausgabe), 1.
40 Vgl. z. B. die stenografischen Protokolle des Abgeordnetenhauses des (cisleithanischen) Reichs-
rats [Nicht im Quellenverzeichnis angeführt].
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453