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Lokalisierungsfrage | 117
30. Juli ein. Von diesem Schritt erfuhren die Grazerinnen und Grazer jedoch erst
am 1.
August.235 Bis dorthin rätselten die Zeitungen darüber, ob ein russisches Ein-
greifen am „Balkan“ möglich schien. Die Hoffnung, dass Russland sich heraushal-
ten werde, war groß:
„Die letzten Hoffnungen bestehen nur noch darin, daß sich Rußland der Einmischung
enthält und dadurch ein Weltkrieg verhindert wird, dessen Wirkungen auf das gesamte
Kultur- und Wirtschaftsleben Europas unabsehbar wären. Allerdings muß gesagt wer-
den, daß sich Serbien unbedingt unterworfen hätte, wenn es sich allein Österreich-
Ungarn gegenüber gewußt hätte. Aber vielleicht rechnet es darauf, daß sich England
und Frankreich bemühen werden, den Brand zu lokalisieren oder Serbien durch eine
Intervention eine Brücke zur Unterwerfung schlagen. Vielleicht, vielleicht ... aber heute
stehen wir vor der furchtbaren Tatsache des Ausbruches des Krieges mit all seinem Leid
und all seinem Schrecken!“236
Begründet sah man dies anfänglich darin, dass die Forderungen des Ultimatums
keine russischen Interessen verletzen würden und dass der Zar erfahrungsgemäß
„gegen Dynamitattentate und Revolverschüsse auf Herrscher und Thronfolger aus
persönlichen Gründen schlecht zu sprechen sein“ müsste.237 Allerdings äußerte
man mehrmals die „Hoffnung auf Nichteinmischung Rußlands“238 und speku-
lierte über die Haltung der „nordischen Sphinx“239 (Zar). Gemeint war dabei sein
rätselaufgebendes Handeln, das sich durch das öffentliche Fehlen konkreter Stel-
lungnahmen der russischen Regierung verschärfte: „Die russische Regierung aber
schweigt.“240 Die betreffenden Analysen der Redaktionen blieben daher vage. Für
die bürgerlichen Zeitungsredaktionen, die die längste Zeit den Russland-Faktor
ausblendeten, stand beispielsweise außer Frage, dass Russland „hinter den ser-
bischen Hetzereien“241 stehe. Ob Russland aber wirklich militärisch einschreiten
würde, konnte keine der Redaktionen abschätzen: „Ob sich aber Rußland für einen
Angriffskrieg auf Österreich entscheidet und damit das Deutsche Reich herausfor-
235 Siehe das Kapitel: Großbritannien und Italien.
236 Österreich-Ungarn und Serbien vor dem Krieg!, in: Arbeiterwille, 26.7.1914, 1.
237 In banger Erwartung, in: Arbeiterwille, 25.7.1914, 1.
238 Die Hoffnung auf Nichteinmischung Rußlands, in: Arbeiterwille, 27.7.1914 (Abendausgabe), 1.
239 Stunden der Entscheidung, in: Arbeiterwille, 28.7.1914, 1.
240 Fortgesetzte Verhandlungen wegen Lokalisierung des Krieges, in: Arbeiterwille, 30.7.1914
(Abendausgabe), 1.
241 Der Lostag, in: Grazer Tagblatt, 25.7.1914, 1.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453