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Abschiedsszenen | 201
den Frau des Kriegsmannes: Mußt dich trösten! Jetzt heißt’s stark sein! Das Mütterchen
hat das richtige Wort gefunden.“338
Der abfahrende Soldat durfte dagegen nicht weinen, zumal diese Form der
Trauer mit einer ungewissen Zukunft und daher mit Angst zu tun hatte. Der Sol-
dat musste seine Tränen unterdrücken: „Auf dem Bahnhofe ist man Zeuge der
herzzerreißendsten Szenen, die dem Manne mit den stärksten Nerven zu Herzen
gehen müssen.“339 Ängste galten als „unmännlich“ und standen für „Nervosität“
respektive „Schwäche“. Wie sehr man den nicht-weinenden Soldaten von Seiten
der Grazer Redaktionen einforderte, wird auch an einem dem Soldatenhumor340
zuzurechnenden Artikel ersichtlich:
„In einem kleinen Ort [... in Nordrhein-Westfalen] bringen die Landwehrfrauen mit
den Kindern die einberufenen Ehemänner zur Bahn. Einer der letzteren kann beim Ab-
schiede von Frau und Kind eine Träne nicht unterdrücken. Darnach die Frau: ‚Was? Du
willst ein Mann sein? Zieh’ die Hose aus, dann zieh’ ich sie an!‘“341
Schlussendlich suggerierte dieser (redaktionsfremde) Artikel, dass die „Verweichli-
chung“ des Manns zu einer „Vermännlichung“ der Frau führen würde. Diesbezüg-
liche Ängste waren dem „nervösen Zeitalter“342 immanent und wurden während
des Kriegs auf unterschiedliche Art zum Ausdruck gebracht.343 Dementsprechend
gab es in der Presse Frauenwitze, deren Anzahl gegenüber denjenigen Witzen, die
auf Kosten der Männer gingen, weitaus höher ausfiel. In einem dieser üblichen
Frauenwitze sagte ein (deutscher) Soldat zu seiner Frau, als sie anfing zu weinen,
weil er in den Krieg ziehen müsse: „Nu, heule man nicht, Alte, die kleene Erholung
kannste mir schon gönnen!“344 In einem anderen Witz fragte ein Landsturmmann
im Amtshaus nach, ob er einrücken müsse. Das Amt sagte ja, woraufhin der Mann
erleichternd antwortete: „Gott sei Dank, jetzt komm’ ich wenigstens von meiner
Alten los!“345 Der Mann sollte demnach keine Angst davor haben, wenn er in den
338 Der Abschied von den Lieben, in: Arbeiterwille, 27.7.1914, 3.
339 Das Bild am Bahnhof, in: Arbeiterwille, 27.7.1914 (Abendausgabe), 2.
340 Vgl. den Lexikonartikel „Soldatenhumor“ von Aribert Reimann in: Hirschfeld/Krumeich/Renz
(22014), 845.
341 Sie will die Hose, in: Grazer Tagblatt, 17.9.1914, 14.
342 Siehe das Kapitel: Vier Leitpanoramen.
343 Siehe das Kapitel: Pfadfinder und Wandervogel.
344 Berliner Kriegshumor, in: Grazer Tagblatt, 8.9.1914, 4.
345 Steirischer Humor in ernster Zeit, in: Grazer Tagblatt, 18.8.1914 (Abendausgabe), 2.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453