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Grazer Frauenhilfskomitee | 249
Grazer Gemeinden stammt und] sechstens von Geburt an evangelisch-deutsch
ist.“606 Das sechste Kriterium war wie die anderen vom damaligen Standpunkt aus
gesehen eindeutig. Politisch grundierte Anforderungsprofile wie jenes des Sara-
jevo-Stiftungsplatzes zeigen, dass man in der Not des Kriegs vielfach nicht über die
konfessionellen und nationalen Zugehörigkeiten hinwegsah. Eher das Gegenteil
war der Fall, sodass eine gesamtgesellschaftliche „Kriegsgemeinschaft“ bereits von
Kriegsbeginn an nicht möglich war. Ein weiteres Beispiel, das verdeutlicht, dass
man während des Kriegs die Konfessionskonflikte nicht ruhen ließ, stellt der Ver-
kauf eines Gutes in der steirischen Gemeinde Gröbming dar:
„Unserer schon schwer genug bedrängten Gemeinde droht neuerlich wieder große Ge-
fahr. Eines der schönsten und bestgelegenen Güter, auf dem bisher jahrelang eine ein-
trägliche Gastwirtschaft betrieben wurde, ist durch Todesfall verkäuflich geworden, aber
kein evangelischer Käufer will sich finden. Wenn das Gut, das unmittelbar der evang.
Kirche und Pfarrhaus benachbart ist, in [... die Hände] eines der nicht evangelischen
Fanatiker käme, sind die Folgen für Gemeinde und Kirche gar nicht abzusehen.“607
Auch an der hier geführten Bodenfrage erkennt man, dass der auf den vorderen
Seiten eines Publikationsorgans beschworene Burgfrieden auf den hinteren Seiten
sehr schnell an seine Grenzen geriet. In den Sparten der hinteren Seiten themati-
sierte man nämlich breit die alten und neuen Erschwernisse des Alltags, deren Be-
wältigung nur mühselig ohne gesellschaftliche Reibungen erfolgen konnte. Diesbe-
züglich muss noch hinzugefügt werden, dass es sich bei dem Begriff „Burgfrieden“
um eine „Mangelware“ handelt. Er scheint in den Grazer Zeitungen mehrheitlich
nur dort auf, wo man über andere Länder – via Korrespondenzübernahme oder
redaktionseigenen Stellungnahmen – berichtete (Deutschland608, Großbritan-
nien609, Russland610). Dort, wo man über die „Einheit“ in Österreich-Ungarn (oder
vielfach nur jene in Österreich) schrieb, griffen die Zeitungen nämlich nur selten
606 Ebd.
607 Gröbming. (Aus der Gemeinde.), in: Evangelische Kirchen-Zeitung für Oesterreich, 1.8.1914,
192.
608 Der „Burgfriede“, in: Arbeiterwille, 17.10.1914, 2.
609 Die englischen Arbeiter gegen die allgemeine Wehrpflicht, in: Arbeiterwille, 17.11.1914, 5: „Auch
in England herrscht ein ‚Burgfrieden‘. Erfreulicherweise besteht er bisher in der Hauptsache da-
rin, daß man den Arbeitern in devotester Weise entgegenkommt, denn die herrschenden Klassen
zittern wie Espenlaub vor jeder geringsten oppositionellen Regung des Proletariats.“
610 Die Gefangenen in Sibirien, in: Arbeiterwille, 20.11.1914, 3: „Denn Rußland kennt keinen ‚Burg-
frieden‘ [...].“
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453