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| Alltag und
Einheitsprüfungen302
den Maße entgegenkommt.“288 Auf die Schnelle könnte man meinen, dass Konrad
Föllinger dem druckausübenden Artikel nicht standhielt und daraufhin seinen
Mietern entsprechend entgegenkam. Dem war aber nicht so. Im Endeffekt hatte er
bereits seit Wochen die Mieten reduziert. Zumindest steht das in einem Novem-
berartikel des Arbeiterwillens (!), der damals die Mietpreisnachlässe von Konrad
Föllegger als nachahmenswert einstufte.289 Für diese Blamage entschuldigte sich
der Arbeiterwille nicht. Im Grunde genommen entschuldigten sich die Grazer Zei-
tungen nur sehr selten, wenn ihnen ein redaktionseigener „Anprangerungsfehler“
unterlief. Anhaltend hieß es im Arbeiterwillen, dass bestimmte Grazer im „War-
men/Trockenen“ säßen und den Krieg zu ihrem eigenen Vorteil ausnützen wür-
den.290 Diese Menschen galt es, zu finden und öffentlich zu „brandmarken“. Zu-
sätzlich dazu versuchte er in mehreren Artikeln die neue Wohnrechtslage seinem
Publikum näher zu bringen. Der Kern seiner Ratschläge bezüglich der „ärgste[n]
und bedrückendste[n] Sorge“ (= Mietzins in Kriegszeiten) lautete: „Es ist also die
erste Regel für die Frau des Eingerückten: ‚Unterschreibet dem Hausherrn keine
Zeile.‘“291 Ebenso befand sich im sozialdemokratischen Parteihaus eine Auskunfts-
stelle für jedwede Fragen von Seiten der Bevölkerung.292 Letztendlich zeigt sich
auch an der Mietzinsfrage, dass im Organ der Sozialdemokratie fortschritts- und
gestaltungsoptimistische Haltungen neben negativen Kriegsvorstellungen standen.
Schrieb der Arbeiterwille an dem einen Tag, dass die „Scheinpatrioten“ nach dem
Krieg bestraft werden würden, resignierte er in anderen Artikeln: „Viel, viel haben
Friedenszeiten an den wirtschaftlichen Schwächsten gutzumachen, Wunden, die
der Krieg geschlagen, an Frauen und Kindern zu heilen.“293 Die bürgerlichen Gra-
zer Zeitungen erkannten ebenfalls, dass sich das Verhältnis zwischen den Mietern
und Vermietern mit Kriegsausbruch verschärfte. Ihre Berichterstattung, die sich
größtenteils auf die Wiedergabe diverser Verordnungen und Presseaussendungen
von Hausvereinen und Ministerien beschränkte294, fiel aber nachvollziehbarer-
weise weitaus geringfügiger aus als jene des Arbeiterwillens. Weder präsentierten
sich die bürgerlichen Zeitungen als Anwälte der Vermieter noch der Mieter.
288 St. Peter-Freienstein, in: Arbeiterwille, 10.12.1914, 6.
289 Nachahmenswertes Beispiel eines Hausherren, in: Arbeiterwille, 29.11.1914, 8.
290 Siehe dazu die vier Kapitel: Antisozialdemokratischer Demonstrationszug, Erste „Soldatenerzäh-
lungen“, Kirchen und Friedhöfe und Über die „Sprachbereinigung“.
291 Das Mietverhältnis und der Krieg, in: Arbeiterwille, 11.9.1914, 3.
292 Auskunftsstelle, in: Arbeiterwille, 5.8.1914, 4.
293 Grazer Elendsbilder, in: Arbeiterwille, 6.12.1914 (2. Ausgabe), 9.
294 Uneindringlichkeit von Mietzinsen, in: Grazer Tagblatt, 1.9.1914, 3; Der Verein der Hausbesitzer
der Marktgemeinde Eggenberg, in: Grazer Vorortezeitung, 6.9.1914, 3.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453