Page - 305 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Kirchen und Friedhöfe | 305
ten (weil tatenlosen) „Gerede“ äußerte er, wie mehrfach erwähnt, auch gegenüber
der bürgerlichen Presse und den sogenannten „Wirtshauspatrioten“.305 Es ist daher
verständlich, dass der Arbeiterwille in einer Zeit, als die sozialdemokratische Be-
wegung herbe Rückschläge erfahren musste306, den erhöhten Kirchenbesuch mit
wohldosierter Vorsicht kommentierte. Besonders deutlich stellt sich dieser Sach-
verhalt in dem Artikel „Beten und Wirken“, der am 18. August (dem Geburtstag
des Kaisers) publiziert wurde, dar. In keiner Weise kritisierte man in diesem Arti-
kel Menschen, die in den Kirchen oder in der Synagoge Trost suchten. Nirgendwo
finden sich Stellen, die den Schluss nahelegen, dass der Arbeiterwille das Beten
geringschätzte. Dennoch zeigt sich an diesem Artikel, dass der Arbeiterwille das
„Wirken“ als wichtiger als das Beten einstufte:
„Die Stätten gemeinsamen Gebets sind weit geöffnet, und viele finden den Weg dorthin,
deren [... Wege] erst an Kirche und Synagoge achtlos vorbeiführten. Die Not der Zeit
ging nicht nur schwachen Gemütern wie ein großes Erschrecken ein. Da gibts Welt-
305 Siehe dazu die drei Kapitel: Antisozialdemokratischer Demonstrationszug, Erste „Soldatenerzäh-
lungen“ und Mietzins.
306 In den ersten zwei Kriegsjahren sanken die Mitgliederzahlen mehrerer Teilorganisationen (Ge-
werkschaften, Vereine, Zeitungsabonnements). Gegen Ende des Kriegs stiegen viele sozialde-
mokratische „Parteizahlen“ wieder. Dieser Kurventrend ist den einschlägigen Studien zu diesem
Thema bekannt, wenn auch die dort angegebenen Zahlen vielfach variieren. Diesbezüglich möchte
ich auf eine weitere Quelle verweisen. Es handelt sich hierbei um die staatlichen Kurzberichte über
die sozialdemokratische und anarchistische Bewegung. Diese Kurzberichte erschienen einmal pro
Jahr. Gedruckt wurden sie u. a. von der k. k. Hof- und Staatsdruckerei in Wien. Der Titel dieser
seit 1888 erschienenen – und nicht leicht auffindbaren – Reihe lautet: „Sozialdemokratische und
anarchistische Bewegung im Jahre [so-und-so]“. Die notizartigen Kurzberichte fokussieren sich
hauptsächlich auf Cisleithanien. Wie man zu den dort angegebenen Zahlen kam, wird nicht aus-
geführt. Das Prinzip der Nachvollziehbarkeit ist somit nicht gegeben. Schenkt man den Berichten
(aus der Kriegszeit) Glauben, so verlor die steirische Sozialdemokratie bis Ende 1915 37 % ihrer
Mitglieder (Anfang 1914 hatte sie noch an die 14.000 Mitglieder, die Mitgliedsbeitrag zahlten). Die
Frauenorganisation blieb in diesem Zeitraum ungefähr gleich stark [Hier muss Folgendes hinzu-
gefügt werden: Laut der Fachliteratur stiegen seit Kriegsbeginn die Mitgliederzahlen der meisten
steirischen Frauen-Ortsgruppen, vgl. Schmidlechner/Ziegerhofer/Sohn-Kronthaler/Sonnleitner/
Holzer (2017), 24 f.]. Ende 1916 hatte die steirische Sozialdemokratie wieder 13.000 Mitglieder,
vgl. wie gesagt die einzelnen Berichte „Sozialdemokratische und anarchistische Bewegung im Jahre
[so-und-so]“. In diesen Berichten ging man auch auf die Gewerkschaften ein: Zu Beginn des Jahrs
1915 waren 14.291 Männer und 1.126 Frauen in den „großen“ (?) Gewerkschaften der Steiermark
organisiert. Das entspricht einem Rückgang von 40 % (im Vergleich zum Vorjahr). Im Quellen-
verzeichnis habe ich exemplarisch den Bericht für das Jahr 1915 (gedruckt 1916) angeführt. Die
fachliterarischen Anlaufstellen zu diesem Thema sind meiner Meinung nach Grandner (1992),
Hautmann (1987) und Schmidlechner/Ziegerhofer/Sohn-Kronthaler/Sonnleitner/Holzer (2017),
die – wie bereits oben angedeutet – teilweise andere Zahlen nennen.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453