Page - 307 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Kirchen und Friedhöfe | 307
der Seckauer Diözese entnehmen kann – eigene Kriegsbetstunden ein.310 In der
Stiegenkirche (Sporgasse), wo sich, wie erwähnt, Anfang August ein Hauptmann
erschoss, hielt man beispielsweise jeden Freitag um 19 Uhr eine Kriegsandacht
ab (Aussetzung des Allerheiligsten, Rosenkranz, Predigt, Litanei und Segen). An
diesen speziellen Andachten durften nur „Männer und Jünglinge“ teilnehmen.311
Dass in Kriegszeiten sakrale Bauten verstärkt aufgesucht werden, ist keine neue
Erkenntnis. Allein im 20. Jahrhundert lassen sich viele Beispiele, in denen be-
stimmte Krisen (Krieg, Naturkatastrophen) mit einem eklatant hohen Kirchen-
gang korrelierten, greifen. Ebenso finden sich Gegenbelege, die zeigen, dass gerade
nach Naturkatastrophen religiöse Bauten abrupt leer wurden. Für den Kriegsbe-
ginn 1914 trifft dies nicht zu, da in allen Kriegsstaaten die Kirchenbänke dicht
besetzt waren.312 Und auch für Graz lassen sich keine „Gottesverurteilungen“ oder
„Gotteslästerungen“ nachweisen (Die Theodizeefrage wurde nicht gestellt). Der er-
höhte Kirchenbesuch hatte vielschichtige Gründe. Ängste und Sorgen gab es viele
zu dieser Zeit. Die Aussicht auf einen frühen Tod, „die umso schrecklicher war,
als sie meist junge Menschen traf, die noch – entgegen jeder Logik der Generati-
onenfolge – vor ihren Eltern starben“313, belastete sehr. Ferner hatten viele Angst
vor Gefangenschaft, vor der Beerdigung in „fremder“ Erde, vor Arbeitslosigkeit,
vor Betriebseinschränkungen, vor Krankheiten bzw. Infektionen, vor Denunzia-
tionen, vor Versorgungsengpässen, vor Partizipationsverlusten, vor dem Verzicht
(auf Sexualität sowie Drogen- und Genussmittel) sowie generell vor Gewalt. Als
wären diese Ängste noch nicht genug, verschlimmerte sich die Lage – zumindest
für die katholischen Gläubigen – durch den Tod von Papst Pius X. am 20. August
1914. Die bürgerliche, ebenso die sozialdemokratische Presse schrieb einige Male
über den im Sterben liegenden Papst.314 Wenngleich die Redaktionen hierbei oft
auf Korrespondenznachrichten zurückgriffen, verfassten sie auch eigene Artikel,
die beim katholisch-konservativen Volksblatt über die obligatorische Anteilnahme
hinausgingen. Das Ableben des Papstes am 20. August bedeutete selbstredend
den Wegfall einer zentralen religiös-politischen Deutungshoheit. Und für viele
310 Andachten während der Kriegszeit, in: Kirchliches Verordnungs-Blatt für die Seckauer Diözese
(1914), Nr. 8, 63.
311 Kriegsandacht nur für Männer und Jünglinge, in: Grazer Volksblatt, 20.8.1914, 7.
312 Zum verstärkten Kirchenbesuch in Deutschland: Stöcker (22014), 52; Chickering (2009), 68; Nü-
bel (2008), 89–91; Schröder (2007), 223; Andresen (2006), 19; Geinitz (1998), 206. Für Tirol:
Strauß (2014); Rettenwander (2005), 84, 98.
313 Ich zitiere hier den Aufsatz „Religion“ von Annette Becker in: Hirschfeld/Krumeich/Renz
(22014), 192–197, 192.
314 Die Mittags-Zeitung erschien seit dem 19. August 1914.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453