Page - 357 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Image of the Page - 357 -
Text of the Page - 357 -
Modeboykott | 357
lang mit Pariser und Londoner Mode ausgestattet hatten. Der Vorwurf, jemand
sei „unpatriotisch“ und könne somit nicht Teil der Einheitsbildung sein, richtete
sich daher nicht nur (anfänglich) gegen die Sozialdemokraten, die „Lebensmittel-
wucherer“ oder die „Zinsgeier“, sondern auch gegen bestimmte junge Frauen und
Mädchen, die sich in den Augen der bürgerlichen Zeitungen einer „Reinigung“
bewusst entziehen würden. Obwohl keine Übergriffe auf Personen in „unpatrio-
tischer“ Mode erfolgten, deuten die vehementen Redaktionsbeschwerden darauf
hin, dass man den Boykottappellen nur sporadisch nachkam. Auf jeden Fall folgte
man ihnen nicht so weit, wie es sich die bürgerlichen Zeitungsredaktionen von
der Bevölkerung erhofften. Außerdem verdeutlichen diese Presseschilderungen,
dass im Hinterland bereits sehr früh diverse Leute aus den eigenen Reihen in Be-
drängnis gerieten, weil sie sich nicht an die neuen (und in diesem Fall von Privaten
aufgestellten) Gebote und Verbote hielten. Die Presse zeigte sich schlicht und er-
greifend irritiert bis hin zu verärgert über jene Frauen, deren Verhalten nicht den
Einheitsvorstellungen der jeweiligen Redaktion entsprach.
Kritisiert wurden nicht nur die jungen „Dämchen“, die am Bahnhof nur aus
„Sensationslust“ herumspazierten,559 oder eben jene jungen Grazerinnen, die nach
wie vor in „französischen“ Kleidern herumliefen, sondern viele andere Frauen auch
(siehe unten). Zusammenfassend ergibt sich so das Bild einer äußerst zerklüfteten
Stadtbevölkerung, die weit davon entfernt war, eine geschlossene „Kriegsgemein-
schaft“ zu werden, geschweige denn zu sein. Die virulente Sexualfrage und die
damit verbundene Sanitätsfrage sind hier ebenfalls zu nennen. Besonders schlimm
erachtete die Presse Frauen, die sich (aus Sicht der Redaktionen) promiskuitiv
verhielten oder gar fremdgingen. Den Frauen an der „Heimatfront“ schrieb die
Grazer Presse daher vor, dass sie nicht fremdgehen dürfen, weil sich ein derartiges
Verhalten negativ auf die „Kampfmoral“ der Soldaten auswirken würde. Und die
Soldaten sollten nicht fremdgehen, weil sie davon eine Geschlechtskrankheit be-
kommen könnten, was in weiterer Folge die „Wehrkraft“ des Staats beeinträchtigen
würde. Am Ende schwankten die Fremdgehverbote der Presse zwischen sexualmo-
ralischen und gesundheitsprophylaktischen Ansichten.560 Richtete man sich an die
Frauen, kam mehr das sexualmoralische/„sittliche“ Argument zum Einsatz. Bei
den Soldaten kam mehr der gesundheitsprophylaktische/sicherheitspolitische As-
pekt zum Tragen. Außerehelicher und außerpartnerschaftlicher Geschlechtsver-
kehr waren damals weit verbreitet. Dieses „wehrkraftschädigende“ Sexualverhalten
559 Siehe das Kapitel: Transportkolonne am Bahnhof.
560 Eine der ernstesten Fragen, in: Arbeiterwille, 5.11.1915, 1. Generell zur Sexualität und den Ge-
schlechtskrankheiten im Hinterland: Eckart (2014), 212–318; Sauerteig (22003).
back to the
book Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße"
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453