Page - 399 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Die „Soldatenspiele“ der Kinder | 399
mit Stöcken oder Schusswaffen „Krieg“ auf der Straße spielten. Diese Spiele wur-
den anfänglich geschätzt und romantisiert. Bei diesen „Soldatenspielen“ kam es
gelegentlich zu schwerwiegenden Unfällen, weswegen sie zunehmend in Verruf
gerieten. Die Ablehnung galt nur den unorganisierten „Soldatenspielen“, d. h. je-
nen Spielen, die von keinem Verein, wie den Pfadfindern oder dem Wandervo-
gel, ausgerichtet und beaufsichtigt wurden. Die von den bürgerlichen Kinder- und
Jugendgruppen organisierten „Kriegsspiele“ (im Wald oder bei Schießübungen)
wurden von der bürgerlichen Presse nie kritisiert. Im August 1914 galten sowohl
die organisierten als auch die unorganisierten „Kriegsspiele“ aber nach wie vor
als ein erfreuliches Zeichen dafür, dass selbst die Kinder für die „Sache“ einste-
hen würden. Nicht selten liest man daher in den bürgerlichen Zeitungen, dass die
„Soldatenspiele“ die Kinder „stärken“/„erneuern“ würden. Ein Beispiel aus der
deutschnationalen Mittags-Zeitung:
„Ueberall sieht man sie jetzt, in den Gärten, auf den Plätzen, in den Straßen der Stadt.
Kleine Buben von acht, von sechs und von vier Jahren, eine Soldatenmütze auf dem
Kopf, ein Portemonnaie umgeschnallt, das eine Patronentasche bedeutet, und ein rohge-
schnitztes Stück Brennholz an der Seite, das Bajonett. […] Der Ernst der Erwachsenen
wird ihnen zum Spiel. Wir lächeln darüber und es tut uns unsäglich wohl, über etwas
lächeln zu können. Ihnen aber, den Kindern, ist es heiliger Ernst. Sie nehmen ihr Spiel
fürchterlich genau. Ja, sie scheinen es zu fühlen, was das Wesen eines modernen Krie-
ges ausmacht: Strengste Pünktlichkeit. […] Kinder … Auf den Schlachtfeldern ganz im
Süden und ganz im Norden stehen jetzt ihre Väter und kämpfen für sie, kämpfen für
Oesterreichs Zukunft. Und man denkt: was werden das einst für Menschen werden, die
in solchen Tagen zu Männern wachsen.“794
Die hier geäußerte Spiel- und Erziehungsauffassung (inkl. des französischen Wor-
tes „Portemonnaie“) schlug sich in der bürgerlichen Presse und den bürgerlichen
Zeitschriften regelmäßig nieder. Bereits bei der ersten „großen“ Hauptversammlung
794 Die Kinder rüsten auch, in: Grazer Mittags-Zeitung, 22.8.1914, 4. Vgl. zudem Peter Roseggers
Aussage: „Das Soldatenleben – nicht das, wie es einmal war, sondern wie es heute ist – erzieht
seine Leute. Es gewöhnt sie an die auf dieser Welt einmal unbedingte nötige Achtung vor den
Vorgesetzten, strengt sie an zur Ordnung, Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit, zur körperlichen
Tüchtigkeit und zu manch andern Vorzügen, die auch im bürgerlichen Leben gut zu gebrauchen
sind. Und der Krieg? Wir sind im Laufe der Zeiten abscheulich verlottert und versumpft, eine
rücksichtslose Eigennützigkeit, Gewinngier und Verrohung herrschte, die der Krieg kaum über-
bieten kann. Der Krieg – vorausgesetzt, daß er für Gesittung und Recht geführt wird – macht den
Soldaten mutig, großdenkend, hilfebereit für die Kameraden. Der Egoismus wird zum Altruis-
mus.“ Aus: Heimgärtners Tagebuch, in: Heimgarten (1914), Nr. 12, 936.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453