Page - 407 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Diebstahl und Betrug | 407
kamen die Täter jedoch davon, wobei sich aus der Presse nicht feststellen lässt, ob
der Dieb oder die Diebin vor oder hinter dem Tresen gestanden war. Vom Spen-
dendiebstahl betroffen waren auch die einzelnen Sammelkästen, die auf der Straße
(meistens vor einem Geschäft) aufgestellt wurden. In diese Sammelkästen konnte
die Bevölkerung diverse Sachen oder Geld hineinwerfen, die man später den Sol-
daten oder den Hilfsbedürftigen zukommen ließ. In der Regel warfen die Grazer
und Grazerinnen daher Geld und Zigaretten, teilweise auch Essen, hinein. Der
Geschäftsinhaber entnahm dann nach einiger Zeit den Kasteninhalt und brachte
ihn zur Grazer Burg, wo der Großteil der Spenden gesammelt wurde. An diesen
privatinitiierten und in diesem Fall nicht-umsatzorientierten Sammelkästen zeigt
sich deutlich, wie sehr sich der Grazer Mittelstand um die Errichtung der „Hei-
matfront“ bemühte. Die Sammelkästen schafften es aber nicht primär deswegen in
die Zeitungen, weil sie „patriotisch“ waren. Im Grunde genommen berichteten die
Zeitungen über sie nur dann, wenn sie aufgebrochen wurden.834 Einmal kam es
sogar vor, dass ein Kasten zur Gänze gestohlen wurde. Andere Male zog man ge-
schickt mit der Hand oder mit einem Messer die Spenden heraus. Ein derartiges
Verhalten galt als „unpatriotisch“ und die entsprechenden Zeitungsberichte führ-
ten meiner Einschätzung nach den Grazerinnen und Grazern vor Augen, dass
nicht nur „Serbenfreunde“, sondern auch Diebe und Betrüger „Verrat“ an der
„Heimatfront“ begingen. Dieser Eindruck ließ sich kaum unterdrücken, was dazu
führte, dass man sich im Alltag gegenseitig in erhöhtem Maße auf die Finger
schaute. Die Presse nahm bei dieser Überwachung sämtlicher Alltagsmomente
eine bedeutende Rolle ein. Es missfiel ihr sichtlich, wenn jemand sich gegen den
Kriegseinsatz im Hinterland stellte. Einige Menschen imitierten beispielsweise die
„Gold-gab-ich-für-Eisen“-Ringe und verkauften diese (verbotenerweise). Als das
Kriegshilfsbüro von diesen Betrugsfällen erfuhr, gab es entsprechende Warnungen
aus.835 Die Nachahmung der „Gold-gab-ich-für-Eisen“-Ringe entsprach nicht ein-
mal annähernd der Intention hinter dieser Aktion des Silbernen Kreuzes.836 Be-
kanntlich ging es dem Silbernen Kreuz vornehmlich darum, dass man goldene
oder silberne Wertsachen (in den Quellen des Öfteren zu einem Ring stilisiert)
gegen einen eisernen und mit entsprechender Gravur versehenen Ring eintauschte.
Den Ertrag aus den eingeschmolzenen Wertsachen zog das Silberne Kreuz für
834 Siehe z. B. folgende zwei Vorfälle: Ein Sammelkasten erbrochen, in: Grazer Tagblatt, 20.10.1914
(Abendausgabe), 8; Verhaftung zweier Schulknaben, in: Grazer Mittags-Zeitung, 17.12.1914, 3.
835 Schwindelhafte Machenschaften zum Nachteile humanitärer Einrichtungen, in: Grazer Tagblatt,
15.9.1914, 16.
836 Die k. k. Gesellschaft vom Österreichischen „Silbernen Kreuze“ wandte sich der Fürsorge für die
heimkehrenden Soldaten bzw. die Kriegsinvaliden zu.
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Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Title
- Graz 1914
- Subtitle
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Author
- Bernhard Thonhofer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln- Weimar
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 510
- Keywords
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453