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20 Akteure in Agrarsystemen
Voluntarismus lässt sich alltägliches Wirtschaften als strukturierte und strukturie-
rende Praxis begreifen.96
Ein Landwirtschaftsstil bezeichnet eine Ordnungsweise97 eines betrieblichen
Agrarsystems, eine Verknüpfung unterschiedlicher, auch widersprüchlicher Ele-
mente zu einem stimmigen Zusammenhang – kurz, einen Versuch, ‚alles unter ei-
nen Hut zu bringen‘ (Abbildung 1.2). Das „sozio-technische Netzwerk“98 des
Wirtschaftsstils sucht Natur und Technik zu verknüpfen, Betriebs- und Familien-
erfordernisse auszutarieren, Land- und Viehnutzung aufeinander abzustimmen,
Geschlechter- und Generationenkonflikte zu moderieren, zwischen Gebrauchs-
und Tauschwertproduktion zu balancieren, agrarische und nichtagrarische Tätig-
keiten zu kombinieren, sich mit Marktkräften und Agrarpolitik zu arrangieren und
so fort. Das alltägliche Verknüpfen, Austarieren, Abstimmen, Moderieren, Ausba-
lancieren, Kombinieren und Arrangieren konfiguriert die Eigenlogik materieller,
sozialer und symbolischer Systemelemente – von ‚Dingen‘, ‚Menschen‘ und
‚Ideen‘ – zu einem innerlich kohärenten und nach außen hin distinktiven Land-
wirtschaftsstil.99 Dieser von der Akteur-Netzwerk-Theorie100 angeleitete Zugang
eröffnet einen praxeologisch gewendeten System- und Strukturbegriff : Agrarsys-
teme und deren Strukturen gewinnen Gestalt gegenüber ihrer naturalen und sozi-
alen Umwelt erst über die Kohärenz und Distinktion stiftende Praxis von Akteu-
ren.101 In Abwandlung eines alltagshistorischen Leitmotivs lässt sich sinngemäß
sagen : Die Akteure machen ihre Agrarsysteme nicht aus freien Stücken, aber sie
machen sie selbst.102
Van der Ploeg hat Landwirtschaftsstile nicht nur theoretisch bestimmt, son-
dern auch empirisch erprobt. In seiner Studie über niederländische Milchbauern
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ordnet er deren Wirtschaftsstile entlang
der Achsen der Produktion (arbeits- versus technikorientiert) und der Reproduk-
tion (autonom versus marktabhängig) an : economical farmers (eher arbeitsorientiert
und autonom), machinemen (eher arbeitsorientiert und marktabhängig), cowmen
(eher technikorientiert und autonom) und vanguard farmers (eher technikorien-
tiert und marktabhängig).103 Die realisierten Wirtschaftsstile korrespondieren mit
den Idealtypen des peasant und entrepreneurial mode of farming : economical farmers
als „bäuerlicher“ Stil, machinemen und cowmen als Zwischenformen und vanguard
farmers als „unternehmerischer“ Stil.104 Diese Typologie ist keinesfalls allgemein-
gültig, sondern hängt an den Besonderheiten von Untersuchungszeit und -raum ;
jede Untersuchung – und erst recht eine historische – muss daher die jeweiligen
Wirtschaftsstile explorativ, aus ihrem Gegenstand heraus entwickeln.105
Die von Akteuren praktizierten, eher unternehmerisch oder eher bäuerlich
orientierten Landwirtschaftsstile bewegen sich nach Geoff A. Wilson auf einer
Skala mehr oder weniger produktivistischen Denkens und Handelns.106 Jede Posi-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937