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37Die
Konstruktion des „Hoforganismus“
sätzlichen Momenten bestimmt : den „Kräften der Differenzierung“, die – etwa
zum Ausgleich von Arbeitsspitzen – die Vielseitigkeit der Betriebszweige erfor-
derten, und den „Kräften der Integrierung“, die
– etwa entsprechend der Verkehrs-
lage – zur Einseitigkeit der Betriebszweige drängten.7 In diesem Kräftedreieck, so
die Annahme, entwickle sich das Betriebssystem wie ein Organismus in Zeit und
Raum. Im Zentrum stand das Leitbild des
– männlichen
– „rationellen Landwirts“,
der diese Schub- und Zugkräfte zu einem harmonischen, das standortabhängige
Produktivitätspotenzial optimal ausschöpfenden Gleichgewichtszustand zu ver-
binden vermochte.8
Während die Organismustheorie des landwirtschaftlichen Betriebes zunächst
auf Größenunterschiede kaum Rücksicht nahm und allein die betriebliche Seite
betrachtete, arbeiteten Ernst Laur in der Schweiz und Alexander Tschajanow in
Russland an Theorien der (klein-)bäuerlichen Familienwirtschaft. „Der bäuerli-
che Betrieb ist eng verbunden mit der ganzen Lebensführung der Bauernfami-
lie“9
– diese Annahme erforderte anstelle eines einfachen Betriebs- ein gekoppeltes
Haushalts-Betriebs-System, in dem Produktions- und Konsumentscheidungen
einander wechselseitig beeinflussen. Somit verband sich die Logik des Landwirts,
der nach größtmöglichem Reinertrag strebt, mit der Logik der bäuerlichen Familie
im Sinn des „Gleichgewicht[s] zwischen Arbeitsbeschwerlichkeit und Bedürfnis-
befriedigung“10. Als Vermittler der Lehren Laurs und Tschajanows in Österreich in
den 1920er und 1930er Jahren wirkte Ernst Conrad Sedlmayr, der den Absolven-
ten der Wiener Hochschule für Bodenkultur die „bäuerliche Landgutswirtschaft
als lebenden Organismus“ vermittelte. Er bestimmte das „Wesen“ des Landwirt-
schaftsbetriebs nicht, wie noch Aeroboe und Brinkmann, allein als „Ertragsquelle“,
sondern zudem als „Arbeitsquelle“, „Quelle der Selbstversorgung“ und „Famili-
enwirtschaft“11 – eine Sicht, die sein Schüler Anton Steden, Promotor der Buch-
führungsstatistik in der Niederösterreichischen Landwirtschaftskammer in den
1920er und 1930er Jahren, übernahm.12 Damit war die allgemeine Organismus-
theorie des landwirtschaftlichen Betriebes an die Besonderheiten der bäuerlichen
Familienwirtschaft angenähert worden.
Der ehemalige Assistent und Nachfolger des 1938 abgesetzten Steden auf dem
Lehrstuhl für landwirtschaftliche Betriebslehre an der Wiener Hochschule für Bo-
denkultur, Ludwig Löhr,13 machte das Haushalts-Betriebs-System zur Grundlage
einer dezidiert bäuerlichen, gegen die Vorstellung des „rationellen Landwirts“ ge-
richteten Betriebslehre. Die Verwobenheit von Bauernfamilie und Betrieb äußere
sich in einer „Schicksalskurve“ aus vier Zeitabschnitten :
„Der erste Zeitabschnitt ist dadurch gekennzeichnet, daß der Jungbauer und seine Frau,
unterstützt von den noch arbeitsfähigen, am Auszug stehenden Eltern, der Wirtschaft
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937