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39Die
Konstruktion des „Hoforganismus“
die Ansätze Laurs und Tschajanows, einige Facetten bäuerlichen Wirtschaftens
wie die enge Verflechtung betrieblicher und familiärer Momente, die der klassi-
schen Betriebslehre entgingen. Demzufolge seien die bäuerlichen Familien wie die
Agrarpolitik insgesamt bestrebt, die zyklisch wiederkehrenden Täler der „Schick-
salskurve“ abzuflachen und die Spitzen auszunutzen : durch „Forcierung der Fa-
milienarbeit“ – die Steigerung der Arbeitsanstrengung, die vor allem bei Frauen
und Kindern zu dauernden Schäden führen könne ; durch frühe Hofübernahme,
die dem Jungbauern die Arbeitskraft der Übergebenden sichere ; durch Anpassung
des Verhältnisses der Kulturarten, der Ackerfrüchte und der Generationen von
Rindern, etwa der Anteile der Ackerfläche, der Hackfruchtfläche oder der Kühe ;
durch Veränderung der Flächenausstattung mittels Pachtung oder Verpachtung ;
durch außerbetriebliche Erwerbsarbeit in der Landwirtschaft (Taglohn-, Saisonar-
beit, Gelegenheitsfuhrwerk usw.) oder anderen Wirtschaftszweigen (Hausgewerbe,
Industrie, Fremdenverkehr usw.) ; durch Aufnahme familienfremder Arbeitskräfte,
die jedoch erfahrungsgemäß so lange als möglich hinausgeschoben werde ; durch
Einsatz arbeitssparender Maschinen, vor allem solcher, mit denen die Einstellung
der ersten familienfremden Arbeitskraft angewandt werden könne. Der agraris-
tische Zug dieses Entwurfes war mit einem rassistischen verwoben : All diese
Strategien zeigten, „daß Hof und Familie eine untrennbare Einheit bilden und daß
dementsprechend die agrarwirtschaftlichen Probleme innig verflochten sind mit den
Leistungen, die das Bauerntum in blutsmäßiger Richtung entwickelt [Hervorhebung
im Original]“.17
Was lag näher, als die Verwurzelung des „Hoforganismus“ im Boden nicht nur
theoretisch zu debattieren, sondern auf Basis der seit dem späten 19. Jahrhun-
dert expandierenden Agrarstatistik auch empirisch zu fassen ? Gemäß des vor-
herrschenden Interesses der zeitgenössischen Agrarökonomie an der Nutzung
des Bodens im Allgemeinen und des Ackerlandes im Besonderen18 wurden für
einzelne Regionen, Staaten oder die gesamte Welt „Landbauzonen“ abgegrenzt
und meist kartographisch dargestellt.19 Hinsichtlich der organismustheoretischen
Bezüge und der empirischen Basis ragen zwei deutsche Beiträge aus den 1930er
Jahren heraus : die Karte der Grundlagen der deutschen Landwirtschaft nach Gebie-
ten ähnlicher Betriebsformen 1934 von Heinrich Niehaus, einem Mitarbeiter Max
Serings, und die Karte der Landbauzonen Deutschlands 1936 von Wilhelm Busch,
einem Mitarbeiter Theodor Brinkmanns. Niehaus unterschied auf dem Gebiet des
Deutschen Reiches sieben Zonen ähnlicher Betriebsformen : das nordwestdeut-
sche Grünlandgebiet, das süddeutsche Grünlandgebiet und die feuchten Höhen
des Mittelgebirges, das Futterbaugebiet an der Ostsee, das ostdeutsche Roggen-
Kartoffelgebiet, die Weizen-Gerste-Zuckerrübenzone mit den besten Ackerböden
Deutschlands, die südwestdeutschen Tal- und Beckenlandschaften im Weinbau-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937