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54 Anatomie eines „lebenden Organismus“
des Hervortretens des Ackerlandes bildet eine Mischung aus Vieh- und Milchver-
marktung sowie Roggen-, Hafer- und Kartoffelverkäufen die Einkommensbasis.
Eine gänzlich andere Welt tut sich in der östlichen Beckenlandschaft auf : Auf
vergleichsweise kleinen, aber ertragreichen Betriebsflächen treten die Äcker, vor-
wiegend zum Weizen-, Gerste- und Zuckerrübenbau, sowie, je nach regionalen
Gegebenheiten, die Weingärten hervor. Das östliche Flach- und Hügelland „zeigt,
bodenkundlich gesehen, große Mannigfaltigkeit“ : Lössdecken, stellenweise auch
Schwarzerden im Norden ; seichte, kalkhaltige, sandige Lehmböden auf Schotter-
grund im Marchfeld ; Braun- und Schwarzerden, Schwemm- und Humusböden
neben Lössen südlich der Donau ; Niederungsmoore und Salzböden im Winkel
östlich des Neusiedlersees. Die pannonischen Klimaeinflüsse
– Niederschlagsarmut
und Austrocknung durch kontinentale Winde
– werden durch den Hügelcharakter
im Norden und den klimaausgleichenden Neusiedlersee im Süden etwas gemildert.
Zusammen mit der natürlichen Gunstlage begünstigt die enge Verkehrsanbindung
an die Millionenmetropole Wien und das Industriegebiet entlang der Südbahn
als „überragendes Konsumzentrum“ sowie an die regionalen Verarbeitungsbetriebe
(Zucker- und Stärkefabriken, Brennereien, Mühlen usw.) die Marktfruchterzeu-
gung.60
Die Arbeitsverfassung erscheint bei Löhr eng an die sich aus Natur- und Ver-
kehrslage ergebenden land- und forstwirtschaftlichen Produktionsschwerpunkte
gekoppelt : einerseits die Taglöhner-Gesinde-Wanderarbeiterverfassung, die Taglöh-
ner-Deputat-Wanderarbeiterverfassung oder, vor allem in nutzviehschwachen oder
nur auf Rindermast abgestellten Großbetrieben, die reine Wanderarbeiterverfassung
der Acker- und Weinbauwirtschaften in der östlichen Beckenlandschaft ; anderer-
seits die Gesinde-Taglöhnerverfassung der Acker-, Grünland- und Waldwirtschaf-
ten im Nordalpen- und Alpenvorland sowie im Bergland des Waldviertels, die
sich in der westlichen Beckenlandschaft Oberdonaus zur reinen Gesindeverfassung
ausprägt.61 Obwohl diese Agrarraumgliederung dem Ökotypen-Modell ähnelt,
geht sie doch entscheidend darüber hinaus. Sie folgt gedanklich einer Wirkungs-
kette, die sich von den „natürlichen Landschaften“ über die Produktionsgebiete bis
zur Arbeitsverfassung spannt ; sie leitet Soziales ökonomisch und Ökonomisches
ökologisch ab, um es in einem als Behälter gedachten „Lebensraum“ festzuma-
chen.62 Zudem enthält dieser Raumentwurf, über eine bloße agrarökonomische
Beschreibung hinaus, auch eine agrarpolitische Wertung : Während die „Gesin-
deverfassung“ im westlichen Oberdonau der „gesunde[n] Grundbesitzverteilung“
zugutezuhalten sei, folgten die Taglohn- und Saisonarbeit im östlichen Niederdo-
nau einer „unerwünschte[n] Grundbesitzverteilung“.63 Erkenntnisleitend ist hier
offenbar das Modell des vollbäuerlichen Familienbetriebes mit ganzjährig beschäf-
tigter Landarbeiterschaft.64 Vereinfachende Schlüsse dieser Art argumentieren zu-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937