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70 Anatomie eines „lebenden Organismus“
Während Kahler den Vorrang der „naturgesetzlichen Gegebenheiten“ vor dem
menschlichen „Bedarf und Wollen“ als Ergebnis der Untersuchung darstellte, wer-
tete sein Mitarbeiter Josef Bergmann, dem die Durchführung oblag, das durch
Klima und Boden bestimmte Pflanzenwachstum als „wichtigste[n] Ausgangspunkt
für die Gliederung nach landwirtschaftlichen Produktionsgebieten“.93 Dieser Wi-
derspruch folgte aus dem theoretischen Postulat der „räumlichen Gebundenheit“
der Agrarsysteme, das auf Basis der betrieblich, lokal und kleinregional stark
streuenden Betriebsdaten offenbar empirisch kaum einzulösen war. Als Ausweg
aus diesem Dilemma bot sich die Orientierung an der pflanzenkundlichen Glie-
derung Nieder- und Oberösterreichs in eine pannonische, untere und obere balti-
sche, subalpine und alpine Vegetationsstufe an ; sie bildete die Folie für die weiteren
Projektionen : „In sie wurden alle übrigen Beobachtungselemente (orographische,
geologische, klimatologische, Viehhaltung, Siedlungs- und Rechtsverhältnisse) hi-
neinprojiziert, so dass aus dieser Gesamtschau die vorliegenden landwirtschaftli-
chen Produktionsgebiete mit ihren Unterbezirken erwuchsen.“94 Die organische
Metapher vom „Erwachsen“ der agrarräumlichen Gliederung aus den Klima- und
Bodenbedingungen stellt die Dinge auf den Kopf ; von Grund auf besehen, er-
scheint die im Nachhinein hergeleitete Naturabhängigkeit der Agrarsysteme der
Landesbauernschaft Donauland als anthropogene Voraussetzung.
Einer zwangsläufigen Logik der „fast zwingende[n] Einheit“ 95 von Natur- und
Wirtschaftsraum entsprechend, bildeten die Gemeinden der Landesbauernschaft
Donauland auf Basis der Bodennutzungserhebung und Viehzählung 1939 sieben
Produktionsgebiete, die aus 23 Unterbezirken mit insgesamt 109 Sprengeln be-
standen : A Pannonisches Flachland (A1 Marchfeld, A2 Wienerbecken, A3 Neu-
siedlerseegebiet, A4 Steinfeld und A5 Kremser-Tullnerbecken), B Pannonisches
Hügelland (B1 Südmähren, B2 Weinviertel und Horner Becken und B3 Oberpul-
lendorfer Winkel), C Weinbaugebiete, D Flach- und Hügelland südlich der Donau
(D1 St. Pöltner Becken, D2 Donau-Traunbecken, D3 Inn-Niederung, D4 Ge-
biet von Melk-Amstetten und D5 Hügelland des Inn- und Hausruckviertels ein-
schließlich des engeren Alpenvorlandes), E Wiener Wald, F Voralpen- und Alpenge-
biete (F1 Bucklige Welt und Wechselgebiet, F2 Kalkalpen, F3 Salzkammergut und
F4 Mondseerland) und G Wald- und Mühlviertel (G1 Waldviertel einschließlich
Dunkelsteiner Wald und Frainerspitz, G2 Mühlviertel einschließlich Sauwald, G3
Höhenlagen über 750 bis 800 Meter und G4 Ausläufer des böhmischen Beckens).
Zwar wurden die Betriebsformen „überall da, wo Abweichungen von den Gebie-
ten einheitlicher natürlicher Produktionsbedingungen festgestellt werden konnten
und soweit solche bekannt waren, bei der Bildung der Wirtschaftsgebiete voll be-
rücksichtigt“, wie etwa bei den Weinbaugebieten ; doch blieben „alle Sonderheiten
kleiner Gebietsteile, der besonderen Verkehrslage oder sporadischer Betriebsweise“
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937