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130 Anatomie eines „lebenden Organismus“
zu können, müssen wir zunächst – dekonstruierend – einen Blick durch dessen
professionelle Brille werfen.
In den 648 ausgewerteten Besichtigungsprotokollen finden sich die Namen
von 26 landwirtschaftlichen Sachbearbeitern. Sie führten durchwegs den In-
genieurs- oder Doktortitel, was ihre akademische – agronomische oder juristi-
sche – Ausbildung belegt. Anhand von Merkmalen, die für die Beschreibung von
Landwirtschaftsstilen aussagekräftig erscheinen, lassen sich für das Kollektiv der
landwirtschaftlichen Sachbearbeiter individuelle Beurteilungsprofile erstellen. Ob
diese Profile eher von den Beurteilten oder eher von den Beurteilenden und deren
Ratgebern geprägt waren, lässt sich kaum bestimmen ; messbar ist jedoch der Ein-
fluss der einzelnen Beurteilungsprofile auf die Gesamtstreuung der Urteile. Von
den 26 Sachbearbeitern beeinflussten nur drei – Schindler, Zsoldos und Peschke –
das Gesamturteil in überdurchschnittlicher Weise in Richtung des jeweiligen Ein-
zelprofils. Schindler, der mit 53 Gutachten am häufigsten im Sample vertreten ist,
gestand den Bauernfamilien in überdurchschnittlichem Maß Anspruchslosigkeit,
Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit zu. Auch Zsoldos ist mit 49 Gutachten häufig
vertreten ; er tendierte dazu, die (unter-)bäuerliche Betriebsführung als „fortschritt-
lich“ und „sehr gut“ zu werten. Peschke, der mit zehn Gutachten zu den selteneren
Sachbearbeitern zählt, betonte, ähnlich wie seine beiden Kollegen, Tüchtigkeit und
Wirtschaftlichkeit der Betriebsinhaber ; zudem tendierte er aber auch zu strenge-
ren Urteilen wie „nachlässig“, „spekulativ“ oder „unbeholfen“. Ebenso zeigten die
Beurteilungsprofile ihrer Kollegen Tendenzen in die eine oder andere Richtung.193
Zwar zerfallen die Beurteilungsprofile der Sachbearbeiter in mehrere, in un-
terschiedliche Richtungen weisende Varianten : Schindler, der ‚Empathische‘,
Zsoldos, der ‚Enthusiast‘, Peschke, der ‚Skeptiker‘. Doch gesamt gesehen hoben
sich die gegenläufigen Tendenzen der drei herausragenden Sachbearbeiter zum
Teil wieder auf. Gleichwohl handelte es sich um eine kollektive, aus individuel-
len Urteilen errichtete Konstruktion der „ordentlichen Betriebsführung“ – und
nicht um das, was die Protokolle zu sein vorgaben : eine objektive Beschreibung
der „Persönlichkeit und Wirtschaftsweise des Betriebsinhabers“. Die Bürokratie
der Landstelle Wien bedurfte, wie jede andere Bürokratie, genau dieser Illusion
der Objektivität, um ihrem alltäglichen, subjektiven Denken und Handeln einen
Sinn zu verleihen. Dies äußerte sich nicht zuletzt in der Akribie, mit der die Sach-
bearbeiter trotz der Vielzahl an Entschuldungsverfahren jeder einzelnen Betriebs-
besichtigung widmeten ; in vielen Fällen, vor allem in der Anfangsphase, ergänzten
sie die Fülle der Erhebungsmerkmale auf den Formularen um Randnotizen und
Beilageblätter. Durch den akribischen Einsatz des agronomisch-juristischen Bil-
dungskapitals zur Erfüllung der behördlichen Norm bestärkten die Sachbearbei-
ter gewiss auch ihr Bewusstsein als Funktionselite des NS-Staates. Wie eine nach
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937