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164 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
von 1940. Danach waren die Amtsgerichte ermächtigt, abgelaufene Pachtverträge
„auf angemessene Zeit zu verlängern“, wenn dies zur „Sicherung der Volksernäh-
rung“ oder für eine „gesunde Verteilung der Bodennutzung“ erforderlich schien ;
weiters konnten Pächter/-innen mit mangelnder Eignung gerichtlich abgesetzt
werden.66 Charakteristisch für die nationalsozialistische Auffassung von Land-
besitzrechten war die Verbindung wirtschaftlicher und „rassischer“ Auslesemaß-
stäbe : „Als Pächter ist förderungswürdig der tüchtige vor dem minder tüchtigen,
der Kinderreiche und Erbgesunde vor dem Unverheirateten oder Erbkranken.“67
Eine Alternative zum Eigentümer- oder Besitzerwechsel eröffnete der 1943 vom
Reichsbauernführer verkündete „Landnutzungstausch als Selbsthilfe im Kriege“.
Das Verfahren hatte das Ziel, ohne Eingriffe in bestehende Rechtsverhältnisse zer-
splitterte Parzellen zu größeren Einheiten zusammenzulegen ; weiters zielte der
Landnutzungstausch auf die Zusammenlegung der Gründe von Betrieben, deren
Leiter im Militärdienst waren, mit den Gründen anderer Betriebe. De jure war das
Verfahren freiwillig, de facto wurde häufig Zwang auf die Beteiligten ausgeübt.68
Der „freiwillige Landnutzungstausch“ bot eine flexible Handhabe, um das starre
Verfahren der Grundstückszusammenlegung, das mit Kriegsbeginn auf Eis gelegt
wurde, zu umgehen.69
Über die behördliche Genehmigung von Kaufverträgen und anderen Formen
des Grundeigentümerwechsels, Eingriffe in Landpachtverträge und schließlich
Nutzungswechsel unter Umgehung des Eigentums- und Pachtrechts eignete sich
der NS-Staat Schritt für Schritt Landbesitzrechte an. Zwar reichte der anti-libe-
ralistische Impetus dieses Regelwerks nicht so weit, dass
– entsprechend sozialisti-
scher Auffassungen – das private Grundeigentum zur Gänze verstaatlicht wurde ;
doch dessen Nutzung wurde gemäß des vom NS-Regime definierten „öffentlichen
Interesses“ zunehmend staatlicher Steuerung unterworfen.70 So gesehen steuerte
die nationalsozialistische Bodenpolitik auf einen dritten Weg zwischen Sozialis-
mus und Liberalismus zu : anti-sozialistisch im Hinblick auf das Landeigentum,
anti-liberalistisch im Hinblick auf die Landnutzung. Vor diesem Hintergrund
erscheint die nationalsozialistische Erbhofpolitik weniger als Rückschritt in ei-
nen „Neo-Feudalismus“,71 sondern eher als weiterer Schritt auf einem korporati-
vistischen Entwicklungspfad, den viele europäische Staaten zwischen den beiden
Weltkriegen, vor allem seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, einschlugen.72 Der
Agrarkorporativismus der 1930er Jahre eröffnete Alternativen sowohl zum westeu-
ropäischen Liberalismus, der mit einer existenziellen Krise rang, als auch zum „real
existierenden Sozialismus“ in Osteuropa.73
Zusammen mit der Verordnung zur Sicherung der Landbewirtschaftung 1937
und dem Gesetz zur Sicherung der Reichsgrenze vom selben Jahr74 verallgemei-
nerte das Regelwerk zum „ländlichen Grundverkehr“ die staatliche Steuerung im
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937