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180 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
an kleineren, mittleren und größeren Betrieben sowie der Zahl der Menschen, die
darin arbeiteten und lebten.133 Nach Ansicht des Reichsnährstandes handelte es
sich um „ein umfangreiches und vielseitiges Material an Tatbeständen und Er-
fahrungen“, das „das soziale und wirtschaftliche Gefüge der Landbevölkerung so
lückenlos widerspiegelt, daß es für alle Planungsarbeiten schlechthin, vor allem
für die ländliche Neuordnung, eine exakte Grundlage abgibt“.134 Auf dieser Basis
sollte die Auslese siedlungswilliger „Neubauern“, die zunächst freiwillig erfolgte,
wissenschaftlich ermittelt und dadurch zum Gegenstand zentraler Steuerung ge-
macht werden.
Die spärlichen Hinweise135 lassen die Stoßrichtung der „ländlichen Neupla-
nung“ für Niederdonau erahnen. Ins Visier der Planer gerieten offenbar jene Prob-
lemzonen, die Heinz Haushofer bereits 1940 benannt hatte : die Kleinbauern- und
die Berggebiete. Der Sachbearbeiter der kreisweisen Erhebungen zur „ländlichen
Neuordnung“ in Niederdonau erörterte im November 1943 mit der Reichsstelle
für Raumordnung verschiedene Erhebungsprobleme, darunter auch die Zahl der
„überschüssigen“ Bevölkerung. Danach ergab die Differenz zwischen der „Istzahl“
und der „Sollzahl“ aus Intensivbetrieben, Kleinlandwirten, Arbeiterlandwirten,
Landhandwerkern sowie Land- und Forstarbeitern die Zahl der „unerwünschten“
Kleinbetriebe. Deren Angehörige sollten umgesiedelt, deren Fläche „für die Auf-
stockung sowie für die Neuerrichtung von Groß- und Vollhufen“ umgewidmet
werden.136 An den Erhebungen in Niederdonau beteiligte sich auch die Wiener
Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung unter der Leitung Hugo Has-
singers, die Ortsbeschreibungen zur Erstellung der Wunschbilder anfertige.137
Über die Bestands- und Wunschbildplanung im Kleinbauerngebiet im Osten
des Reichsgaues schreibt der ehemalige Leiter der Landwirtschaftsverwaltung in
Niederdonau in den 1980er Jahren rückblickend :
„Diese Überzeugung [der Reichsnährstandsführung über den Widerspruch zwischen
bäuerlichem Ideal und Realität in Niederdonau] hatte dann auch zur Folge, daß man
von Berlin aus im dichtbevölkerten niederösterreichischen Kleinbauernland eine Art
agrarpolitischer Inventur betrieb, die unter dem Deckmantel der Strukturforschung
die spätere ‚Auskämmung‘ einer angeblich überflüssigen agrarischen Bevölkerung zur
Umsiedlung in den scheinbar schon eroberten, aber erst zu ‚germanisierenden‘ russi-
schen Raum vorbereiten sollte. In den dazu angestellten Erhebungsbögen waren für
jeden Hof Männer, Frauen und Kinder als hübsche kleine Figürchen aufgemalt, wobei
angemerkt war, wie viele von ihnen ‚nach dem Endsieg‘ zu Haus überflüssig wären und
in den ‚Ostraum‘ umgesiedelt werden könnten. Nachdem die somit erfassten Männer
zum großen Teil irgendwo an den Fronten standen, also gegebenenfalls zwischen dem
Nordkap und der Sahara und zwischen Kaukasus und Pyrenäen, gingen die Nach-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937