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210 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
terschied für die Häufigkeit von Verkaufs- und Tauschanträgen, wie etwa im Fall
des Ehepaares Nigl in Kattau, einer Gemeinde im Weinbaugebiet. Üblicherweise
waren Streifenflurstücke kleiner und lagen daher stärker im Gemenge als Block-
flurstücke. Folglich war die Zusammenlegung verstreuter Parzellen, vor allem von
Ackerstreifen (Tabelle 3.10), für die Erbhofeigentümer/-innen im Osten des AGB
vermutlich ein dringlicheres Problem als für jene im westlichen Teil. Diese An-
nahme wird bestärkt durch die Tatsache, dass die amtlichen Grundstückszusam-
menlegungen der 1950er Jahre, die streifen- in blockartige Parzellen umwandelten,
zuallererst in den Weinbaugemeinden durchgeführt wurden.223
Die Verkaufs- und Tauschanträge vor Gericht folgten der Gewohnheit, bei
Bedarf die eine oder andere Parzelle vom Hof abzutrennen. In Weinbauregionen
war die Bodenmobilität bereits vor 1868, als die Freiteilbarkeit von Bauerngütern
gesetzlich ermöglicht wurde, stärker als anderswo ausgeprägt.224 Folglich fand in
diesen Gegenden die Ideologie des geschlossenen, über Generationen in derselben
„Sippe“ gehaltenen Erbhofs wenig Resonanz in der bäuerlichen Mentalität ; mehr
noch, das REG stieß hier mitunter auf schroffe Ablehnung. Das zeigt etwa der Fall
eines Ehepaares, das mit seinem Ansuchen um Abtrennung einer Waldparzelle
von ihrem in Rafing, einer Weinbaugemeinde, gelegenen Erbhof mit 23 Hektar
Grundbesitz am AEG gescheitert war.225 In der Stellungnahme des Horner Kreis-
bauernführers zum Berufungsverfahren manifestierte sich die mehr oder weniger
latente Ablehnung der erbhofgesetzlichen Bestimmungen im bäuerlichen Milieu :
„Die durch meinen Sachbearbeiter durchgeführten Erhebungen haben vielmehr er-
geben, daß es sich hier um ausgesprochene Sabotage am REG handelt und daß hier
Milde durchaus nicht am Platz erscheint. Die Bauersleute W. und der als Anerbe in
Betracht kommende gesunde Sohn der Familie haben meinem Sachbearbeiter anläss-
lich der Erhebungen glattweg erklärt, das REG bedeutet die schwerste Knechtung der
deutschen Bauernschaft und nehme jedem Bauern das Verfügungsrecht über seinen
eigenen Grund und Boden. […] Der Standpunkt ist auch mit der Gesinnung der An-
tragsteller in Einklang zu bringen, die heute noch als offene Feinde des Nationalsozi-
alismus bekannt sind. Ich würde daher empfehlen, hier streng nach den Grundsätzen
des REG zu handeln und eine Abtrennung dieser Waldparzelle von der wirtschaftli-
chen Einheit unter allen Umständen zu verhindern […].“226
Hier kollidierten die „Grundsätze des REG“ mit dem bäuerlichen Habitus der
Grundbesitzer/-innen, der den flexiblen Umgang mit Landparzellen nahelegte. We-
nig überraschend erteilte das Erbhofgericht Wien nach diesem schwerwiegenden
Vorwurf dem Antrag des Ehepaares abermals eine Absage. Die Richter ergänzten,
„dass, wenn auch die gegenwärtigen Eigentümer für diese Entscheidung kein Ver-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937