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211Schollenbindung
oder Parzellenhandel ?
ständnis aufbringen, es doch ihre Enkel einmal dem Anerbengericht danken wer-
den, dass es den wertvollen Wald dem Erbhof erhalten und auf diese Weise des-
sen Schwächung verhindert hat“.227 Damit nahmen sie die Reserve des Ehepaares
gegenüber dem REG resignierend zur Kenntnis und richteten ihre Hoffnung auf
künftige Generationen von „Erbhofbauern“. Diese Assoziation scheint charakteris-
tisch für die Erbhofgerichtsbarkeit in der „Übergangsphase“ der ersten Jahre nach
Einführung des REG : Während im Erfahrungshintergrund der Protagonisten Erb-
hofideologie und Bauernmentalität aufgrund des bäuerlichen Unverständnisses noch
auseinanderklafften, verschmolzen sie im Erwartungshorizont zu einem harmoni-
schen Ganzen. Vielleicht liegt hier ein Schlüssel zum Verständnis des scheinbaren
Widerspruchs zwischen häufigem Entgegenkommen228 und – wie im vorliegenden
„Sabotage“-Fall – vereinzelter Unerbittlichkeit : Die Richterschaft verstand sich of-
fenbar, über die bloße Verwaltungstätigkeit hinaus, als Agent der „Menschenfüh-
rung“229 – eines Erziehungsprojekts zur Schaffung des „deutschen Bauern“, in dem
taktische Nachgiebigkeit und strategische Beharrlichkeit einander ergänzten.
Dieser Fall lenkt unsere Aufmerksamkeit vom Parzellenverkauf und -tausch auf
die Hofübergabe, einer entscheidenden Weichenstellung hinsichtlich der Vertei-
lung von Besitz und Macht in der ländlichen Gesellschaft.230 Dem Buchstaben
des Gesetzes nach war es ausgeschlossen, einen Erbhof an mehr als einen Aner-
ben zu übertragen ; ebenso war die volle Entschädigung der nicht erbenden Nach-
kommen mit Geld möglich.231 Zwar war im Reichsgau Niederdonau, vor allem
in den westlich gelegenen Landkreisen, die geschlossene Weitergabe der Höfe an
einen Alleinerben oder eine Alleinerbin üblich ; weichende Erben wurden jedoch
meist finanziell oder natural, etwa durch kleinere Grundstücke, abgefunden. In
den östlichen Landkreisen, vor allem in den Weinbaugebieten und in der Umge-
bung Wiens, hatten sich seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Formen der
geteilten Vererbung von Grundbesitz verbreitet.232 Wie auch immer, der Grund-
besitztransfer anlässlich der Hofübergabe war häufig eingebettet in wechselseitige
Tauschbeziehungen zwischen den Generationen derselben Familie : Als Vorleis-
tung auf das zukünftige Erbe oder zumindest eine Abfindung leisteten unverheira-
tete Söhne und Töchter im elterlichen Haushalt un- oder unterbezahlte Arbeit für
den bäuerlichen Familienbetrieb ; meist arbeiteten sie ohne Geldlohn, abgesehen
von einem geringfügigen „Taschengeld“, für Kost und Quartier.233 Im AGB Eg-
genburg verschwammen die, etwa in volkskundlichen Kartierungen, scharf gezoge-
nen Grenzen der „Anerben-“, „Realteilungs-“ und „Mischgebiete“ ; hier lagen nicht
nur die Parzellen, sondern
– trotz Vorherrschens des Jüngsten- oder Minoratserbes
mit ungeteilter Weitergabe des Grundbesitzes – auch die Erbgewohnheiten im
Gemenge.234 Damit waren Konflikte mit der Erbhofgerichtsbarkeit strukturell an-
gelegt – und wurden auch praktisch ausgetragen.
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937