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225Wer
ist (k)ein „Bauer“ ?
„verwahrlost“ und „verunkrautet“. Im „Interesse der Ernährungssicherheit“ müsse
die „Verwaltung und Nutznießung“ dauerhaft an den mittlerweile von der Wehr-
macht ausgemusterten Ehegatten übertragen werden. Dahinter verbarg sich offen-
bar ein ehelicher Konflikt um die Verfügungsgewalt über den Hof : Die Frau, die
den Hof entsprechend der Rechtslage zum Übergabezeitpunkt allein übernommen
hatte, habe sich immer wieder ein „Einmengen“ ihres „nicht angeschrieben[en]“
Mannes in die Wirtschaftsführung verbeten ; auch die Begründung eines gemein-
schaftlichen „Ehegattenerbhofes“ nach der Erbhoffortbildungsverordnung von
1943 sowie die Überschreibung des Erbhofes an die gemeinsame Tochter habe
sie – unter dem „schlecht[en]“ Einfluss ihrer Verwandtschaft – abgelehnt.298 Der
Ehemann, der das Vertrauen der Dienststellen des Reichsnährstandes genoss,
suchte offenbar diesen Ehestreit vor Gericht zu seinen Gunsten zu entscheiden.
Der zur Stellungnahme gebetene Bürgermeister von Ollern bekräftigte nicht nur
die mangelnde „Bauernfähigkeit“ der Frau, sondern stellte auch dem Mann ein
zweifelhaftes Zeugnis aus : Als gelernter Zimmermann verstehe Müller zwar die
Bauernarbeit „ganz gut“ ; der Bürgermeister berichtete aber über das Gerücht einer
außerehelichen Beziehung sowie über eine Brandstiftung, die aufgrund einer diag-
nostizierten Geisteskrankheit straffrei geblieben war.299 Diese Argumente machte
sich die Hofeigentümerin vor Gericht zunutze, um ihrem Ehegatten die „Ehrbar-
keit“ und damit die „Bauernfähigkeit“ abzusprechen ; dies bekräftigte sie mit der
Einleitung eines Scheidungsverfahrens. Daraufhin zog der Landesbauernführer
seinen ursprünglichen Antrag zurück und beantragte die treuhändische Verwal-
tung des Erbhofs. Die Frau entgegnete vor Gericht, dass die von der Kreisbauern-
schaft festgestellten Missstände nicht auf mangelnder „Wirtschaftsfähigkeit“, son-
dern auf dem eklatanten Arbeitskräftemangel beruhten.300 Dem Urteil des AEG
im Fall Müller kam das Kriegsende zuvor.
Das zum vierten Fall gehörende Verfahren hat seinen Ort im linken oberen
Bereich des Raumes der „Bauernfähigkeit“. 1941 beantragte der Reichsnährstand,
dem „Erbhofbauern“ Leopold Schweinhammer die „Ehrbarkeit“ abzuerkennen
und die alleinige „Verwaltung und Nutznießung“ zweier Ehegattenerbhöfe im Ge-
samtausmaß von 54 Hektar in Schudutz und Fehraberg im AGB Haag an dessen
Frau Theresia für drei Jahre zu übertragen. Dem Antrag des Landesbauernführers
zufolge habe Schweinhammer seine Fürsorgepflichten gegenüber dem 15-jährigen
Pflichtjahrmädchen Anna Maurer, an dem er sich „sittlich vergangen“ hatte, „gröb-
lichst missbraucht“.301 Erschwerend komme hinzu, dass es sich der NSDAP zufolge
um einen „politisch und charakterlich durchaus defekten Volksgenossen“ handle,
der als „Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung“ zu betrachten sei.302
Veranlasst wurde der Antrag auf „Abmeierung“ durch ein Urteil des Landgerichts
St. Pölten, das Schweinhammer zwar vom Verdacht der „Notzucht“ Anna Maurers
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937