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258 „Menschenökonomie“ unter Zwang
und äußere sich in der „ungeheure[n] Summe von Arbeitsleistung, von Aushal-
ten in schwierigsten Situationen, von unentwegter Pflichttreue unmittelbar nach
den Bombenangriffen“.7 Eine ideologiekritische Lesart dieses Artikels würde bloß
den wachsenden Realitätsverlust der Vordenker des „Arbeitseinsatzes“ angesichts
der mageren Bilanz der Mobilisierung von Arbeitskräften in den letzten Kriegs-
jahren feststellen.8 Doch nach genauerer Lektüre gewinnt die eigene Realität der
Amtsträger der Arbeitseinsatzverwaltung Kontur : der illusionäre, daher nahezu
ungebrochene Glaube an die Steuerbarkeit der „Menschenökonomie“, der für das
alltägliche Denken und Handeln in den Dienstzimmern der Arbeitsämter bis zum
Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ ein gewisses Maß an Sinn stiftete.9
Die Arbeitsämter etablierten sich im Deutschen Reich gegen Ende der 1930er
Jahre als Schaltstellen des „Arbeitseinsatzes“ auch im landwirtschaftlichen Bereich ;
sie besetzten diese Schlüsselposition bis 1945. Bereits vor dem „Anschluss“ Öster-
reichs hatte sich die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversiche-
rung das Monopol der „Lenkung des Arbeitseinsatzes“ gesichert ;10 1938/39 wurde
sie mit zusätzlichen Vollmachten ausgestattet.11 Die Dienstpflichtverordnung vom
Juni 1938, die gleichnamige, weitergehende Verordnung vom Februar 1939 und die
Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels vom September 1939
ermächtigten die Arbeitsämter, Arbeitslose und Beschäftigte außerhalb der Land-
wirtschaft zur Arbeit in Bauern- oder Gutsbetrieben zu verpflichten sowie land-
wirtschaftlich Beschäftigte an ihre Arbeitsplätze zu binden.12 Auch die Vermittlung
ausländischer Arbeitskräfte, die meist als Saisonarbeiter/-innen auf großbäuerlichen
und Gutshöfen im Osten Niederdonaus beschäftigt wurden, war bereits vor Kriegs-
beginn den Behörden der Arbeitseinsatzverwaltung vorbehalten.13 Dem im März
1940 eingerichteten Landesarbeitsamt Wien-Niederdonau unterstanden neben
Wien neun weitere Arbeitsämter in Amstetten, Eisenstadt, Gän sern dorf, Gmünd,
Krems, St. Pölten, Stockerau, Wiener Neustadt und Znaim. Nach der Abtrennung
des Arbeitsamtes Wien 1943 wurde für Niederdonau ein eigenes Gauarbeitsamt
gebildet.14 Kurz, die Arbeitseinsatzverwaltung bildete während der NS-Ära in Ös-
terreich das zentrale Machtdispositiv der „Menschenökonomie“. Bezeichnender
Weise sah Friedrich Syrup, der Präsident der Reichsanstalt für Arbeitseinsatz und
Arbeitslosenhilfe, in den Arbeitsämtern „zivile Wehrbezirkskommandos“.15
Eine Triebfeder der staatlichen Steuerung des Arbeitsmarktes war das zuneh-
mende Ungleichgewicht zwischen der Nachfrage und dem Angebot an Landar-
beitskräften – eine Schieflage, die mehr und mehr in Widerspruch zu den wirt-
schafts- und bevölkerungspolitischen Zielen des NS-Regimes geriet. Auf dem
sechsten Reichsbauerntag 1938 in Goslar griff die Führungsriege des Reichs-
nährstandes dieses heiße Eisen auf : „Die Landflucht ist mit wirtschaftlichen oder
gesetzlichen Maßnahmen allein nicht zu überwinden, sondern die Landflucht
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937