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259Die
Steuerung der „Landflucht“
wird nur überwunden, wenn die NSDAP. aus ihrem Bekenntnis zum Blute, zur
Rasse heraus den unerschütterlichen Entschluß fasst, sie unter allen Umständen
zu überwinden“, so der verzweifelt anmutende Appell von Reichsbauernführer
und Landwirtschaftsminister Richard W. Darré. Materielle Mittel allein reichten
zur Problemlösung nicht aus ; vielmehr bedürfe es dazu eines ideellen Mittels, der
„weltanschaulichen Einstellung zur Rasse“.16 Manche Forscher sehen darin einen
irrationalen Ausfluss „ideologische[r] Blindheit“ als Symptom der „Unfähigkeit
der nationalsozialistischen Führung, den tiefgreifenden Widersprüchen entgegen-
zutreten, die sie selbst mit der Beschleunigung der industriellen Produktion her-
vorgerufen hatten“.17 Entgegen einer derartigen ideologiekritischen Deutung lässt
der Appell durchaus eine Art kommunikativer Rationalität erkennen – die Stra-
tegie, durch die Überspitzung der Problemlage dem Reichsnährstand im Inneren,
gegenüber dem eigenen Funktionärskader, und nach außen hin, gegenüber anderen
Herrschaftsträgern im polykratischen Gefüge des „Dritten Reiches“, Legitimität
zu verschaffen. Wie auch immer, die „Landflucht“ bildete am Vorabend des Zwei-
ten Weltkriegs das „zentrale agrarpolitische Problem“18 des NS-Regimes – und
damit einen Brennpunkt des offiziellen Agrardiskurses.
„Landflucht“ stellte keine Wortschöpfung nationalsozialistischer Funktions-
eliten dar ; der Begriff war bereits im agrarromantischen Diskurs des Deutschen
Kaiserreiches geprägt worden.19 Auf dem Weg von der Agrar- zur Industriege-
sellschaft im Allgemeinen, von getreide- und gesindeorientierten zu hackfrucht-
basierten und (teil-)mechanisierten Agrarsystemen – Stichworte : Zuckerrübe und
Dreschmaschine – im Besonderen sah sich das Wilhelminische Deutschland mit
einer vielschichtigen, mehrere Stränge umfassenden Migration konfrontiert : der
Auswanderung nach Übersee, der Ost-West-Binnenwanderung und der grenz-
überschreitenden Saisonwanderung.20 Vor diesem Hintergrund wurde im ausge-
henden 19. Jahrhundert der Ersatz von Landarbeitskräften deutscher Nationalität
durch ausländische Saisonarbeiter/-innen in den östlichen Gutswirtschaftsregio-
nen zum Gegenstand akademischer Debatten.21 So führte Max Weber im Rahmen
der Landarbeiterenquête des Vereins für Socialpolitik 1891/92 die Land-Stadt-
Wanderung auf den zunehmenden Interessengegensatz zwischen kapitalistischem
Gutsbesitzer und proletarisiertem Landarbeiter zurück ; während er die Klassen-
spaltung auf dem Land für unabwendbar hielt, erschien ihm gegen die drohende
„Polonisierung“, den Ersatz deutscher Landarbeiter/-innen durch Saisonarbeiter/-
innen polnischer und sonstiger slawischer Herkunft, die bäuerliche Ansiedlung
als probates Mittel.22 In ähnlicher Weise deuteten Max Sering, Theodor von der
Goltz und andere Agrarexperten die ungleiche Landverteilung in den ostelbischen
Agrarregionen als wesentliche Triebkraft der Abwanderung vom Land – und die
Verbäuerlichung der Grundbesitzverhältnisse als Problemlösung.23
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937