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264 „Menschenökonomie“ unter Zwang
8. Pflege der Dorfgemeinschaft, Freizeitgestaltung.
9. Im Ausmaße der erfolgten Lohnerhöhung Senkung der Steuern, staatliche Zu-
schüsse, Erniedrigung der Betriebsmittelpreise oder Erhöhung der landwirtschaftli-
chen Erzeugnispreise.
10. Verbilligte Bereitstellung von arbeitssparenden Maschinen, sofern Hanglagen ihre
Anwendung gestatten, und von Material zum Ausbau von Güterwegen, Seilbahnen,
Gärfutterbehältern, Dungstätten und Jauchegruben.“40
Daran anknüpfend entwarf Löhr neben anderen Expertisen41 zur Jahresmitte 1939
einen umfassenden Aufriss des Landfluchtproblems samt Lösungsansatz. Den
Kern des Problems sah er in der Abwägung zwischen den Aussichten im land-
wirtschaftlichen Beruf und in anderen Berufen, die höhere Löhne bei geringerem
Aufwand versprachen : „Damit wird das Ergebnis eines Vergleichs maßgebend, den
sowohl die Bauernkinder als auch die bezahlten Landarbeiter anstellen und bei
dem sie zu erkennen glauben, daß sie bei der Ausübung des erlernten Berufes ge-
genüber anderen Erwerbsmöglichkeiten wirtschaftlich in letzter Reihe stehen.“42
Diese Abwägung falle in klein- und mittelbäuerlichen Betrieben, vor allem in den
Berggebieten des Waldviertels und der Voralpen, häufiger als in großbäuerlichen
und Gutsbetrieben gegen den Verbleib in der Landwirtschaft aus. Im Unterschied
zu Ersteren böten Letztere familienfremden Landarbeitern und Landarbeiterin-
nen bessere Heiratsmöglichkeiten, mehr Aufstiegschancen und weniger Arbeits-
anstrengung. Nur im östlichen Niederdonau litten auch die größeren Betriebe
unter dem Ausfall der Taglöhner/-innen, die nun gewerbliche und industrielle Tä-
tigkeiten der bisherigen Landarbeit vorzögen. Demgegenüber spiele die Lohnhöhe
keine ausschlaggebende Rolle für die Abwanderung der familienfremden Arbeits-
kräfte mehr, „weil heute der Bauer, oft über die Leistungsfähigkeit seines Hofes hi-
naus, alles daransetzt, sein noch vorhandenes Gesinde materiell zu befriedigen“.43
Aufgrund der durchschnittlich 50-prozentigen, bisweilen 100- oder 200-prozen-
tigen Lohnsteigerungen seien die bäuerlichen Familieneinkommen rapide gesun-
ken : „Der bäuerliche Familienarbeiter ist der schlechtestbezahlte Landarbeiter.“44
Die „biologischen und wirtschaftlichen Folgen der Landflucht“ sah der Autor ei-
nerseits im Rückgang der Kinderzahlen wegen „Überanstrengung der Bauersfrau“,
andererseits in der Extensivierung der Bodennutzung und Viehhaltung wegen ver-
ringerter Ackerflächen sowie Milch- und Mastviehhaltung.
Der Lösungsansatz, den Löhr von diesem Problemaufriss ableitete, umfasste
eine hierarchische Abfolge von Maßnahmen, in der die materiellen Aspekte ge-
genüber den ideellen Vorrang hatten. Oberste Priorität galt der Hebung der bäu-
erlichen Familieneinkommen, die nur durch Schließung der vor allem für die
Bergbauernbetriebe auseinanderklaffenden „Preisschere“ machbar schien. Dafür
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937