Page - 272 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Image of the Page - 272 -
Text of the Page - 272 -
272 „Menschenökonomie“ unter Zwang
„Landwirtschaftsflucht“ ; im Gegenteil : In der Mehrzahl der Landkreise liefen re-
gionale und sektorale Mobilität in entgegengesetzter Richtung.
Um die Stellung Niederdonaus im Besonderen, der Ostmark im Allgemeinen
im reichsweiten Vergleich zu bestimmen, bieten die Ergebnisse der Volkszählungen
von 1933/34 und 1939 eine Bemessungsgrundlage. In diesem Zeitraum verringerte
sich im Deutschen Reich die Zahl der land- und forstwirtschaftlichen Berufszuge-
hörigen von 13,715 um 1,453 auf 12,262 Millionen ; gemessen an der Gesamtbe-
völkerung sank deren Anteil von 20,8 auf 17,7 Prozent. Einer Schätzung zufolge
betrug der Geburtenüberschuss der Agrarbevölkerung 1907 bis 1939 etwa 3,226
Millionen, was zusammen mit der Abnahme der Stammbevölkerung um 2,734
Millionen einen Wanderungsverlust von 5,960 Millionen – oder durchschnittlich
270.000 Personen pro Jahr – ergab.72 Das Ausmaß der „Menschenverluste“ wurde
von Experten des Reichsnährstandes als alarmierend eingeschätzt : „Die Zahl der
in der Land- und Forstwirtschaft tätigen Bevölkerung ist 1939 mit 12.256.000 an
einem Punkt angelangt, dessen Unterschreiten ohne noch größere Schädigungen
für den Volkskörper nicht mehr verantwortet werden kann.“73 An den prozentuel-
len Veränderungen der Zahl der Berufszugehörigen der Land- und Forstwirtschaft
1939 im Vergleich zu 1933 („Altreich“) und 1934 (Ostmark) laut Volkszählung
lassen sich zwei regionale Hotspots der Entagrarisierung ausmachen (Abbildung
4.2) : der Nordosten des Reichsgebiets mit den Landesbauernschaften Kurmark
(–14,0 Prozent), Sachsen-Anhalt (–13,2 Prozent), Schleswig-Holstein (-12,1 Pro-
zent), Pommern (–11,2 Prozent), Ostpreußen (–10,3 Prozent) und Sachsen (–10,1
Prozent) sowie der Südwesten mit den Landesbauernschaften Rheinland (–12,2
Prozent), Bayern (–11,5 Prozent), Württemberg (–11,4 Prozent), Kurhessen (–11,3
Prozent) und Hessen-Nassau (–10,4 Prozent). Mäßige Rückgänge bzw. sogar
leichte Zuwächse verzeichneten die Landesbauernschaft Weser-Ems (–7,0 Pro-
zent), Thüringen (–3,8 Prozent) und Saarpfalz (–3,5 Prozent) im „Altreich“ sowie
die neu errichteten Landesbauernschaften der Ostmark (Südmark : –4,6 Prozent,
Alpenland : –1,0 Prozent und Donauland : +0,3 Prozent) und des Sudetenlandes
(–3,9 Prozent). Kurz, Donauland war die am geringsten von „Landwirtschafts-
flucht“ betroffene Landesbauernschaft des Deutschen Reiches.
Die regionale Konzentration der „Landwirtschaftsflucht“ wirft die Frage nach
fördernden und hemmenden Momenten auf. Um zu einer Antwort zu gelangen,
werden die 24 Landesbauernschaften gemäß ihrer (Un-)Ähnlichkeiten hinsicht-
lich verschiedener Agrarsystemmerkmale in einem mehrdimensionalen Raum
angeordnet. Folgende Merkmale gehen in diese Anordnung ein : die Agrarquote
der Wohnbevölkerung, die durchschnittliche Betriebsfläche, der Acker- und
Waldanteil, die landwirtschaftliche Arbeits- und Vieh intensität, der Gesindean-
teil sowie das Verhältnis von Haupt- und Nebenerwerbsbetrieben. Zudem wird
back to the
book Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945"
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937