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279Die
Steuerung des „Reichseinsatzes“
Deutschen Reiches hatte bereits merklich nachgelassen. Aufgrund der „Verzöge-
rungen und Schwierigkeiten in der Anwerbung von Polen und Slowaken“ wur-
den folgende Gegenmaßnahmen vereinbart : Erstens sollten die Ortsbauernführer
die „unsichtbaren Arbeitslosen und Minderbeschäftigten“, notfalls auch mittels
Dienstverpflichtungen, zum Einsatz bringen und die „Nachbarhilfe“ entsprechend
dem Arbeitskräftebedarf der Betriebe steuern. Zweitens sollte das Arbeitsamt von
den Kreisbauernschaften genannte „besonders notleidende Betriebe“ mit kurzfris-
tig verpflichteten Beschäftigten aus Industrie und Gewerbe versorgen. Drittens
sollten die eingesetzten Kriegsgefangenen auch auf anderen Höfen, die in der Nähe
des Kriegsgefangenenlagers gelegen waren, zum Einsatz gelangen. Viertens würde
das Arbeitsamt in „weitestgehendem“ Maß „beschäftigungslose Frauen und Mäd-
chen“, insbesondere „familienunterstützte Soldatenfrauen“, auf ihre „Arbeitsein-
satzfähigkeit“ hin überprüfen. In solchen Fällen sollten daher die Kreisleiter zur
Benachrichtigung der „im Felde stehenden Männer“ eingeschaltet werden. Zudem
sollten die Kreis- und Ortsbauernführer die Betriebsleiter/-innen dazu anhalten,
der Lösung von Beschäftigungsverhältnissen mit weiblichen Arbeitskräften an-
lässlich der Verehelichung auf keinen Fall zuzustimmen. Die Amtsträger wurden
aufgefordert, alle Frauen und Mädchen zu nennen, „die sich ohne hinreichenden
Grund einer Beschäftigung zu entziehen versuchen“. Fünftens würden Schüler
ab dem 16. Lebensjahr durch das Arbeitsamt in Kooperation mit dem Kreisleiter
und dem Landrat während der Ferien zu landwirtschaftlichen Arbeiten herange-
zogen.93 Der Fall zeigt die Abhängigkeit der amtlichen Problemwahrnehmung-,
-deutung und -behandlung von der jeweiligen Lage auf dem landwirtschaftlichen
Arbeitsmarkt : Waren ausländische Arbeitskräfte in ausreichendem Maß verfügbar,
rückte der „Inländereinsatz“ in den Hintergrund ; stieß der „Ausländereinsatz“ an
Grenzen, trat die Ausschöpfung des inländischen Potenzials, die im Hinblick auf
die Dienstverpflichtung der Ehefrauen von Wehrmachtsangehörigen höchst um-
stritten war, hervor.
Die amtsinterne Debatte über die Ausschöpfung des Potenzials an Landarbei-
terinnen vom Frühjahr 1940 flaute mit dem Einsatz belgischer und französischer
Kriegsgefangener ab dem Sommer 1940 wieder ab. Laut Reichsarbeitsministerium
hatte sich zu Jahresende 1940 die Lage auf dem landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt
entspannt ; die deutsche Landwirtschaft sei mit Arbeitskräften „verhältnismäßig
gut versorgt“. Einmal mehr wurde klargestellt, dass der massenhafte „Ausländerein-
satz“ zwar als befristete Taktik zur Aufrechterhaltung der Kriegsernährungswirt-
schaft akzeptabel schien : „Wir haben gesehen, dass die gegenwärtige Versorgung
der Betriebe nur durch den Masseneinsatz von fremdstämmigen Zivilarbeitern
und Kriegsgefangenen erreicht werden konnte.“ Die längerfristige Strategie folgte
jedoch der nationalsozialistischen Rassenideologie : „Es wird eine der wichtigsten
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937