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280 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Aufgaben der Zeit nach dem Kriege sein, zu verhüten, dass diese Entwicklung
sich fortsetzt, und sicherzustellen, dass die Dauerarbeitsplätze in der Landwirt-
schaft mit deutschen Volksgenossen besetzt werden.“ Hier knüpfte die offizielle
Rede vom „Reichseinsatz“ während des Krieges an die „Landflucht“-Debatte der
Vorkriegszeit an : „Die Mittel hierzu werden aber nicht allein in Maßnahmen der
Arbeitseinsatzpolitik und in Geboten und Verboten bestehen können, sondern es
wird vor allem darauf ankommen, die Lebensbedingungen auf dem Lande, die
materiellen wie die kulturellen, so zu gestalten, daß die Arbeit auf dem Lande ei-
nen erhöhten Anreiz bietet.“ 94 Doch im Unterschied zur „Landflucht“ wurde der
„Reichseinsatz“ in den Massenmedien kaum debattiert ;95 er wurde überwiegend
amtsintern, bisweilen auch im erweiterten Expertenkreis über Fachorgane wie das
Reichsarbeitsblatt verhandelt.96 Diese Leerstelle im massenmedialen Diskurs mar-
kierte einen Widerspruch zwischen Ideal und Realität der amtlichen „Menschen-
ökonomie“, einen wunden Punkt des nationalsozialistischen „Volkskörpers“ : Die
Tugend der „deutschen Landarbeit“ wurde durch die der Not gehorchende Untu-
gend des Masseneinsatzes „fremdvölkischer“ Arbeitskräfte auf den Höfen immer
mehr zur Chimäre.
Die Anteile von Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeitskräften an
den landwirtschaftlich Beschäftigten zeigten im Lauf des Krieges eine steigende
Tendenz ; zugleich wurden wachsende Anteile an allen im „Reichseinsatz“ befind-
lichen Arbeitskräften aus dem Ausland in anderen Wirtschaftszweigen eingesetzt,
vor allem in „kriegswichtigen Betrieben“.97 Doch die reichsweiten, einmal jährlich
erhobenen Angaben verschleiern die regionalen und zeitlichen Schwankungen der
Arbeitskräftezahlen.98 Bereits im Herbst 1939 wurden in Niederdonau die ersten
Frauen und Männer aus dem von der Deutschen Wehrmacht überrannten Po-
len zum landwirtschaftlichen „Arbeitseinsatz“ gebracht. In den folgenden Jahren
erhöhte sich die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte in mehreren Phasen. Bis
1942 folgte das Angebot an Kriegsgefangenen, das an die militärischen Erfolge
und Misserfolge der Wehrmacht gekoppelt war, der Nachfrage nach Ersatzarbeits-
kräften für die zum Arbeits- und Militärdienst einberufenen Männer : Im Sommer
1940 kamen belgische und französische Gefangene zum Einsatz ; im Sommer 1941
folgten serbische ; im Frühjahr und Sommer 1942 wurden nach langem Zögern der
NS-Führung die wenigen Sowjetgefangenen, die den kalkulierten Hungertod in
den Wehrmachtslagern im Winter 1941/42 überlebt hatten,99 eingesetzt. Die Zah-
len der in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigten Kriegsgefangenen im Be-
reich des Landesarbeitsamts Wien-Niederdonau erreichten im Sommer 1942 mit
32.895 ihren Höhepunkt. Ab 1942/43 begann im Zuge des militärischen Rück-
zugs an der Ostfront das Angebot an Gefangenen der Nachfrage hinterherzuhin-
ken ; auch der Einsatz der Italienischen Militärinternierten (IMI) im Herbst 1943
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937