Page - 301 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Image of the Page - 301 -
Text of the Page - 301 -
301
Arbeit als alltägliches Kräftefeld
und Viehpflege herangezogen werden“,153 meldete der GP Seitenstetten im Okto-
ber 1940. Solche allgemeinen Widersprüche brachen im „Russeneinsatz“ 1942 in
besonderem Maß auf. Vor allem in den Streusiedlungsgebieten des Alpenvorlandes
und der Voralpen führte der Einsatz dieser Gruppen zu heftigen Debatten. Zum
Einsatz der nach der behördlichen Einstellung des Straßenbaus freigewordenen so-
wjetischen Kriegsgefangenen in der Landwirtschaft berichtete der GP Ybbsitz im
Mai 1942 : „Die Verordnung, dass die Kriegsgefangenen vom und zum Arbeitsplatz
begleitet werden müssen, erschwert den Höhenbauern, die diese am dringendsten
benötigen würden, deren Einstellung, da dadurch die einzige männliche Arbeits-
kraft einen Arbeitszeitverlust von einigen Stunden haben würde.“154 Unter diesen
Bedingungen wurde der angekündigte Austausch der anwesenden Ausländer/-in-
nen durch sowjetische Zivilarbeiter/-innen als „sehr ungünstig“ beurteilt : „Wäh-
rend die franz. Kriegsgefangenen in ihre Lager nach Arbeitsschluss alleine gehen,
müssten für die russ. Zivilarbeiter Lager errichtet und diese von Bauern zur Arbeit
abgeholt und nach Arbeitsschluss in die Lager zurückgebracht werden.“155 Durch
die Belastung des Hin- und Rücktransports wäre „dem Bauern […] nichts gehol-
fen“.156 Die Kosten der rassenideologisch motivierten Diskriminierung sowjetischer
Kriegsgefangener und „Ostarbeiter“ aus der deutschen Gesellschaft schmälerten ab
Sommer 1942, zumindest in den Streusiedlungsgebieten, erheblich deren ökonomi-
schen Nutzen. Die gegen die Lagerunterbringung erhobenen Vorbehalte stärkten
jene Entscheidungsträger, die eine Einzelunterbringung forderten.157
Häufigen Anlass für Auseinandersetzungen bot die Arbeit an Sonn- und Fei-
ertagen. Die Bestimmung, dass „Ostarbeitern“ für die Arbeit an Sonntagen keine
Zuschläge zum Normallohn zustünden, schuf für die Dienstgeber/-innen einen
Anreiz für die Sonntagsarbeit.158 So klagte im August 1944 der Landrat Neubis-
tritz : „In mehrfachen Fällen wurde besonders von den polnischen Arbeitern und
Ostarbeitern die Sonntagsarbeit während der Heuernte verweigert, sodaß energi-
sche Maßnahmen zur Erzwingung der Arbeitspflicht angewendet werden muß-
ten.“159 Zwar schwieg der Landrat über die Art dieser „energischen Maßnahmen“ ;
dass sich diese nicht in Belehrungen erschöpften, ist anzunehmen. Der Zwang zur
Sonntagsarbeit wurde für die Ausländer/-innen – ebenso wie für die Inländer/-
innen – nach Geschlechtern unterschiedlich wirksam. Während Männer meist
von der Feldarbeit freigestellt wurden oder sich wegen der mangelnden Überwa-
chungsmöglichkeiten im Freien leichter der Arbeit entziehen konnten, waren die
zur Haus- und Stallarbeit verpflichteten Frauen einer umfassenderen Kontrolle
durch die Dienstgeber/-innen unterworfen.160 An der sonntäglichen Messfeier für
Ausländer/-innen, erzählt die ehemalige polnische Landarbeiterin Helene Pawlik,
habe ein Großteil der Frauen nicht teilnehmen können : „Die haben daheim blei-
ben müssen, da wurde viel gewaschen und geflickt […], auch am Sonntag.“161
back to the
book Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945"
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937