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Arbeit als alltägliches Kräftefeld
4.4, Anhang). Obwohl dabei auch Verhaltensänderungen der Beobachteten einkal-
kuliert werden müssen, scheinen unabhängig davon auch die Einschätzungen der
Beobachter einigen Veränderungen unterlegen zu sein. In der ersten Jahreshälfte
1940 wich die anfängliche, von nationalistischen und rassistischen Stereotypen ge-
prägte Skepsis gegenüber den „Polen“ einer reservierten, mitunter deutlichen Ak-
zeptanz. Wie die Berichte des GP Seitenstetten zeigen, schwankte die Beurteilung
von der überwiegenden Ablehnung im Februar über die vereinzelte Skepsis im
März und die weitgehende Zufriedenheit im April bis zum verbreiteten Ruf nach
zusätzlichen „Polen“ im Mai. Die zweite Jahreshälfte 1940 war durch eine deutli-
che Abwertung der polnischen Zivilarbeiter/-innen gegenüber den belgischen und
französischen Kriegsgefangenen gekennzeichnet. Besonders deutlich fassbar wird
dies in den Berichten des GP Ulmerfeld. Hieß es noch im Jänner lapidar : „Die
einberufenen Arbeiter werden grossteils durch Polen besetzt“,210 wurde im August
massive Kritik laut : Die Bauern klagten, „dass sie sehr langsam arbeiten und, wenn
sie bei einer Arbeit allein belassen werden, sehr faul sind“.211 Dass die französi-
schen und belgischen Kriegsgefangenen „leistungswilliger“ seien als die „Polen“, ist
ein durchgängiges Merkmal der Berichte aus den Kreisen Amstetten und Zwettl.
Auch in den Berichten von Gendarmerieposten des Kreises Amstetten 1942
zeichnen sich Meinungsschwankungen ab, die vor allem die erstmals zum Einsatz
gebrachten sowjetischen Kriegsgefangenen und „Zivilarbeiter“ betrafen (Tabelle
4.5, Anhang). Besonders deutlich zeigen dies die Berichte aus Euratsfeld, wo es
im Jänner hieß : „Von der Zuweisung russischer Kriegsgefangener als Arbeitskräfte
für die Landwirtschaft haben schon jetzt die Leute Angst und fast einstimmig
hört man die Meinung, daß niemand solche Leute einstellt, besonders dort, wo
nur alte Leute und weibliche Hilfskräfte im Hause sind.“212 Nachdem auch im
Februar und März die als gewalttätig imaginierten „Russen“ noch abgelehnt wur-
den, erwogen die Betriebsbesitzer/-innen angesichts des Arbeitskräftemangels, der
im April als „außerordentlich“ erschien, bereits im Mai der Einsatz sowjetischer
Arbeitskräfte ; im Juni richtete sich die Hoffnung vollends auf die Zuweisung sow-
jetischer Kriegsgefangener und „Ostarbeiter“, die nun „dankbar anerkannt“ wurde ;
schließlich wurde deren teilweiser Abzug im November und Dezember heftig be-
klagt. Innerhalb eines halben Jahres, so scheint es, hatte sich im Gendarmerierayon
die Einstellung zu den sowjetischen Arbeitskräften grundlegend gewandelt ; der
Furcht einflößende „Russe“ mutierte in wenigen Monaten zum begehrten Kriegs-
gefangenen und „Ostarbeiter“.
Eine pragmatischere Linie zeichnete sich in der ersten Jahreshälfte 1942 in den
Berichten aus Seitenstetten ab, wo sich bereits im Jänner der Ortsbauernführer um
die Zuweisung von Arbeitskräften aus den „eroberten Ostgebieten“ bemüht hatte.
Als im April die „Russen“ zum ersten Mal zur Sprache kamen, wurde einzig und
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937