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333Gerechter
Lohn oder Ausbeutung ?
nes bat, wurde eine Schuldumkehr inszeniert : Der Dienstgeber erschien nicht als
jener, der Sergej Zakharovich Ragulin und seiner Mutter den Lohn schuldig blieb,
sondern als großzügiger Patron, dem sie Dankbarkeit schuldeten. Besonders deut-
lich äußerte sich dies bei der Vorsprache der Mutter wegen eines höheren Geldbe-
trages, um dem Sohn einen Anzug zu kaufen :
„Ja, aber die Mutter ist zum Bauern gegangen, hat ihn gebeten, und er hat ihr ohne
weiteres Reden 150 Mark gegeben. Ja, wir haben schon zwei Jahre gearbeitet, zwei
Jahre, wenn man jedes zu sechzig Mark pro Jahr nimmt, hundertzwanzig, mal zwei
hundertzwanzig, zwei Jahre, sind das schon zweihundertvierzig. Deswegen, mehr, ja,
ich habe so fünf Mal oder zwei Mal ihn um fünf oder zehn Mark gebeten, nicht
mehr.“275
Obwohl der Warencharakter dieses Tausches zwar kurz reflektiert wird, überwiegt
in der heutigen Erzählung und wohl auch im damaligen Leben der Gabencharak-
ter. „Ohne weiteres Reden“ habe der Bauer der Mutter 150 Reichsmark gegeben ;
dabei waren für die beiden Arbeitskräfte nach zwei Jahren bereits hunderte Reichs-
mark an ausständigen Lohnzahlungen aufgelaufen.
Wenn die Dienstgeber/-innen den Lohn nicht zur Gänze oder zum Teil ein-
behielten, so konnten die Lohnempfänger/-innen über die ausgezahlten Beträge
dennoch nicht frei verfügen. Kriegsgefangene konnten den in Lagergeld ausbe-
zahlten Lohn ohnehin nur in einigen dafür vorgesehenen Geschäften oder mit
zehnfachem Wertverlust auf dem Schwarzmarkt verausgaben. „Ungarische Juden“
bekamen vom fiktiven Lohn in der Regel keinen Pfennig zu Gesicht. Doch auch
die Zivilarbeiter/-innen in der Land- und Forstwirtschaft konnten ihre Löhne
kaum legal verausgaben, weil sie als Angehörige einer „Selbstversorgergemein-
schaft“ in der Regel keine Bezugsmarken erhielten ; zudem entwerteten die über-
höhten Preise auf dem Schwarzmarkt die Kaufkraft ihrer Löhne.276 Für viele von
ihnen stellte sich das Problem, die Ersparnisse während des Krieges für die Zeit
danach sicher aufzubewahren. Jene Landarbeiter/-innen, die größere Geldbeträge
bei sich trugen, liefen Gefahr, durch Diebstahl um ihren Lohn gebracht zu werden.
Der polnische Landarbeiter Josef Galemba, dem im Mai 1941 ein Handkoffer
mit 70 Reichsmark aus seiner Schlafkammer in einem Bauernhof in Traisen ent-
wendet wurde, ist nur ein Fall unter vielen.277 Um die Gefahr eines Diebstahls zu
vermeiden, standen zwei legale Möglichkeiten zur Verfügung : der Lohntransfer
in das Herkunftsland und die Einrichtung eines Sparkontos im Deutschen Reich.
Beide Möglichkeiten waren für die ausländischen Lohnbezieher/-innen und deren
Heimatländer, vor allem für „Polen“ und „Ostarbeiter“, mit erheblichen Einbußen
verbunden, von denen die Staatskasse des Deutschen Reiches profitierte.278
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937