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„Menschenökonomie“ vor Ort
Die Behörden muteten der jungen Frau zwar die Überforderung der Betriebsfüh-
rung zu, gestanden ihr eine Entlastung durch ausländische Arbeitskräfte jedoch
nicht zu. Der Fall zeigt, wie der gängige Topos, die „deutsche Frau“ sei als bäuer-
liche „Betriebsführerin“ der Bedrohung von Seiten der „Fremdvölkischen“ nicht
gewachsen, Betriebsleiterinnen zum Nachteil gereichte.
Innerhalb der Gesindearbeitskräfte nichtdeutscher Nationalität verschoben sich
1941 bis 1944 die Gewichte nach Rechtsstatus und Geschlecht (Tabelle 4.22).
Bezogen auf das gesamte Arbeitskräftepotenzial der Betriebe wuchsen die Anteile
der Zivilarbeiter/-innen von Jahr zu Jahr rascher als jene der Kriegsgefangenen.
Zudem wiesen Kriegsgefangene und männliche Zivilarbeiter durchwegs höhere
jährliche Zuwächse als die weiblichen Zivilarbeiterinnen auf. Kurz, Entmilitarisie-
rung und Vermännlichung kennzeichneten den landwirtschaftlichen „Ausländer-
einsatz“. Nach Agrarsystemen und Gemeinden zeichneten sich freilich einige Ab-
weichungen von dieser Gesamttendenz ab ; so behielten etwa die Maschinenmänner
das Zahlenverhältnis zwischen Kriegsgefangenen und Zivilarbeitskräften weitge-
hend bei. Die Entmilitarisierung und Vermännlichung des „Ausländereinsatzes“
ging Hand in Hand mit der Militarisierung und Verweiblichung der inländischen
Arbeitskräftebasis. So gesehen diente der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte auf
den Höfen ein Stück weit der ausgleichenden ‚Normalisierung‘ der ländlichen Ar-
beitsverhältnisse – wenngleich unter außergewöhnlichen Umständen.
Mit dem Verlassen des (unter-)bäuerlichen Hofes und dem Betreten des Guts-
betriebes wechseln wir nicht nur den Schauplatz, sondern auch die Logik der Ar-
beitsverhältnisse. Hier herrschte nicht die Familienwirtschaft unter männlicher –
und immer häufiger auch weiblicher
– Führung ; stattdessen dominierten freiwillige
oder, wie im Fall der Zwangsarbeiter/-innen, erzwungene Vertragsverhältnisse zwi-
schen Lohnabhängigen und Gutsbesitzer/-in, meist vertreten durch einen Guts-
verwalter.354 Da in nahezu allen Hofkarten der Gutsbetriebe im Kreis Gän sern dorf
die Arbeitskräftezahlen für 1944 fehlen, beschränkt sich die Betrachtung auf 1941
bis 1943 (Tabelle 4.23, Anhang). Von den vier Beispielgutsbetrieben konnten drei
ihren Personalstand ausbauen : Auf Karl Steiners Gut in Schönkirchen wurden zu-
sätzlich zwei Gesindekräfte eingestellt, wodurch das Arbeitskraftpotenzial um 11
Prozent stieg. Das Gut der Stadt Wien in Markthof baute zwar mehr als ein Viertel
der ständigen Arbeitskräfte ab ; dafür wurde die Kapazität der nichtständigen Ar-
beitskräfte nahezu verdoppelt. Insgesamt vermehrte sich das Arbeitskraftpotenzial,
vor allem durch die Umschichtung 1942, um 21,6 AKE oder 16 Prozent. Größere
Änderungen zeigte auch der Personalstand des Gutsbetriebes von Leopold Hutter
in Markgrafneusiedl : Zwar wurden die nichtständigen Arbeitskräfte etwas ver-
mindert ; doch die Aufnahme von ständigen Arbeitskräften 1943 führte zu einem
Zugewinn von 9,3 AKE oder 20 Prozent. Einen beachtlichen Personalabbau erfuhr
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937