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420 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
werden die Ein- und Ausschlussmechanismen der nationalsozialistischen Agrar-
förderung zahlenmäßig fassbar. Mit jedem zusätzlichen Hektar Kulturfläche stie-
gen die Aufbaumittel in Kirchberg an der Pielach durchschnittlich um 52 Reichs-
mark, in Mank um 75 Reichsmark, in Litschau um 83 Reichsmark und in Matzen
um 281 Reichsmark, mehr als das Fünffache des niedrigsten Zuwachses.137 Kurz,
der für eine größenproportionale Agrarförderung typische „Matthäus-Effekt“138 –
‚wer hat, dem wird gegeben‘ – wurde in der Voralpenregion am schwächsten, im
Pannonischen Flach- und Hügelland hingegen am stärksten wirksam. Regionale
Unterschiede treten auch beim Vergleich der (Un-)Gleichheit der Mittelverteilung
zutage (Abbildung 5.11) : Die Kurve für Kirchberg an der Pielach verläuft näher
an der Diagonale der Gleichverteilung als die Kurve für Matzen ; folglich waren
die Aufbaumittel in letzterer Region ungleicher als in ersterer verteilt. Die untere
Hälfte der nach den bewilligten Geldbeträgen gereihten Aufbaubetriebe verfügte
in Kirchberg an der Pielach über rund 16 Prozent, in Matzen aber nur über etwa
11 Prozent aller Aufbaumittel. Oder anders gesagt : Die Hälfte aller Aufbaumittel
wurde in ersterer Region bereits mit den unteren 78 Prozent, in letzterer erst mit
den unteren 83 Prozent der Aufbaubetriebe abgedeckt. Die Kurven für Mank und
Litschau liegen zwischen diesen Extremen, wobei sich die erstere Region eher dem
Matzener, die letztere eher dem Kirchberger Extrem annähert.
All diese Unterschiede erscheinen auf den ersten Blick wenig dramatisch ; doch
genauer besehen belegen sie in eindrücklicher Weise, dass dasselbe agrarpolitische
Instrument in regional unterschiedlicher Weise wirksam wurde. Während die Auf-
bauaktion für die Kirchberger Grünland-Waldwirtschaften eher dem inklusiven
Gleichheitsgrundsatz – ‚jedem das Gleiche‘ – nahe stand, folgte sie für die Matze-
ner Acker-Weinbauwirtschaften eher dem exklusiven Effizienzgrundsatz – ‚jedem
das Seine‘.139 Dabei wurde Leistung, gemäß der amtlich definierten „Leistungsfä-
higkeit“, am jährlich erwirtschafteten Saldo der Einnahmen und Ausgaben in Be-
trieb und Haushalt gemessen. Unter diesem Blickwinkel entpuppt sich der agrar-
politische Kurs der Aufbauaktion als doppelgleisiger Pfad, der, je nach regionalen
Bedingungen, hier Gleichheits-, dort Effizienzzielen folgte. Vonseiten der agrar-
politischen Eliten wurden diese beiden Zielbereiche nicht zwingend als Gegensatz
verstanden ; so hieß es in den Richtlinien für die Gewährung von Aufbaumitteln :
„Der Einsatz der Betriebsaufbaumittel muß in einem sachlich gerechtfertigten Ver-
hältnis zu dem zu erwartenden Erfolg stehen. Wirtschaftliche Erwägungen können
nur dann zurückgestellt werden, wenn dies im Hinblick auf besondere Ziele (z. B.
bevölkerungs- und grenzpolitische Erwägungen oder Siedlungsabsichten) erforder-
lich ist.“140
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937