Page - 430 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Image of the Page - 430 -
Text of the Page - 430 -
430 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
Haushaltsführung – angefangen von der Aufsicht über die Aufbaumaßnahmen
über die Erteilung von Auflagen (Buchführung, Erhöhung der Feuerversicherung,
Hofübergabe, Wirtschaftsberatung, Betreuung usw.) bis hin zur Genehmigung von
Investitionen, Grund- und Hofverkäufen158 – in Händen hielt. Den Fluchtpunkt
dieses Machtdispositivs bildete der ‚gläserne Bauernhof‘, in dessen Innerem der
(selbst-)disziplinierte Akteur – wie in einem panopticon159 – stets damit rechnen
musste, von außen überwacht und, bei Fehlverhalten, bestraft zu werden.
Ziehen wir abschließend die Fäden zusammen und betrachten Betriebsgrößen,
Regionszugehörigkeit, Entschuldungs- und Aufbaumittel im wechselseitigen Zu-
sammenhang. Die Entschuldungs- und Aufbaubetriebe ordnen sich entsprechend
ihrer (Un-)Ähnlichkeiten in einem mehrdimensionalen Raum von „Entschuldung“
und „Aufbau“ an (Abbildung 5.12). Zur ersten Dimension der Betriebsgröße, die 31
Prozent der Streuung erklärt, tragen die Höhe und Art der Aufbaumittel – keine
und geringe versus große Geldbeträge, unter- versus überdurchschnittliche Mittel
für Baumaßnahmen sowie fehlende versus überdurchschnittliche Darlehen
– sowie
die Flächenausstattung – Zwerg- und Klein- versus Mittel- und Großbetriebe –
am meisten bei. Die zweite Dimension der Betriebsleistung mit 21 Prozent Erklä-
rungsrate ist durch die Spannung zwischen Futter- versus Acker-, Hackfrucht-
und Getreide-Weinbauwirtschaften, die Regionen Litschau und Kirchberg an der
Pielach versus Matzen, unter- versus überdurchschnittliche „Leistungsfähigkeit“,
Dominanz der Zuschüsse versus Dominanz der Darlehen sowie durchschnittli-
chen Vieh- und Maschinenanschaffungen versus Nichtteilnahme am Aufbau ge-
prägt. Die Höhe der Ablösungssummen im Rahmen des Entschuldungsverfahrens
erweist sich weder auf der ersten noch auf der zweiten Dimension als wesentliches
Unterscheidungsmerkmal ; damit treten jene Merkmale, die auf das Aufbauverfah-
ren bezogen sind, in der Wirkung hervor.
Setzen wir die Größen- und Leistungsdimensionen zueinander in Beziehung,
dann ergeben sich im Raum von „Entschuldung“ und „Aufbau“ vier Felder. Auf den
positiven Abschnitten der beiden Dimensionen finden sich die kreditfinanzierten
Leistungsbetriebe. Sie verfügten häufig über hohe, meist durch Darlehen gedeckte
Aufbaumittel, vor allem für Baumaßnahmen und Maschinenanschaffungen. Diese
gemischt acker- und weinbaulichen Agrarsysteme mittel- bis großbäuerlichen Zu-
schnitts hoben sich durch ihre überdurchschnittliche „Leistungsfähigkeit“ von den
übrigen ab. Schräg vis-à-vis, auf den negativen Abschnitten der beiden Dimensi-
onen, stehen die mäßig subventionierten Grenzbetriebe. Die geringen Aufbaumittel
dienten vor allem für Viehanschaffungen. Dass der „Betriebsaufbau“ selten durch
Darlehen, sondern häufig durch Zuschüsse gedeckt wurde, folgte aus der geringen
„Leistungsfähigkeit“ der Betriebe vielfach nahe der Grenze der „Entschuldungsfä-
higkeit“. Auf dem positiven Abschnitt der ersten und dem negativen der zweiten
back to the
book Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945"
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937