Page - 453 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Image of the Page - 453 -
Text of the Page - 453 -
453„Aufrüstung“
in den Bergen
und Obst wird in fast allen Haushalten ausgiebig gegessen. Hingegen ist der Gemü-
severbrauch im großen und ganzen bescheiden […].
Mithin [ergibt sich insgesamt nach Abzug der Ausgaben von den Einnahmen]
ein Abgang von RM 265. Ein Ergebnis, welches bei der derzeitigen Erzeugungs-
und Preislage vor allem dem Bienenfleiß und der nicht mehr zu unterbietenden An-
spruchslosigkeit der Menschen in der Lebenshaltung zu danken ist.“223
Insgesamt zeichnete der Planungsbeauftragte der Landesbauernschaft Donauland
ein ambivalentes Bild der Ybbsitzer „Bergbauern“ : Einerseits verlieh er seiner Aner-
kennung über den Fleiß und die Genügsamkeit des bäuerlichen Menschen Ausdruck.
Andererseits beurteilte er die bergbäuerliche Bevölkerung an städtisch-bürgerlichen
Maßstäben, die die Beurteilten zwar als „rassisch“ geeignet, hinsichtlich der Betriebs-
und Haushaltsführung jedoch als „rückständig“ erscheinen ließen. Beide Facetten
dieses Bildes kennzeichnen den ambivalenten Blick eines ‚romantischen Modernisie-
rers‘, der die ‚bäuerlich-germanische Tradition‘ schätzte, zugleich aber auch deren wis-
senschaftlich-technische Erneuerung forderte. Durch die romantisch-moderne Brille
des Beobachters hindurch zeigen sich die Umrisse bäuerlicher Arbeits- und Lebens-
weisen, die sich keineswegs gegen industriell-städtische Einflüsse abschotteten, zu-
gleich mit der agrarisch-ländlichen Welt – pflanzlichen und tierischen Wachstums-
bedingungen, familiären, verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Netzwerken,
einer religiös-asketischen Ethik – eng verwoben waren. Das lokale Agrarsystem war
über die Wirtschaftsstile seiner Akteure in der Lage, die zur Produktion für den
Haushalts- und Marktkonsum benötigten Ressourcen
– Land, Arbeit, Betriebskapital
und Wissen – überwiegend selbst zu reproduzieren. Genau an diesem Selbststeue-
rungspotenzial setzte der „Gemeinschaftsaufbau“ an, um die Kluft zwischen Ist- und
Soll-Zustand zu schließen ; dieses sollte für die staatliche Fremdsteuerung dienstbar
gemacht werden – kurz, Fremd- durch Selbststeuerung.224
Der „Gemeinschaftsaufbau“ in Ybbsitz folgte einer planerischen Vorstellung,
die das lokale Agrarsystem den Maßstäben des nationalen Agrarsystems gemäß zu
optimieren trachtete ; im Klartext hieß dies :
„Die natürlichen Erzeugungsbedingungen ergeben optimale Voraussetzungen für
intensive Grünlandbewirtschaftung und gewähren noch ausreichende Möglichkei-
ten zu vielgestaltiger Ackernutzung. Auch die Waldwirtschaft findet günstige Ver-
hältnisse vor und selbst für den Obstbau sind in vielen Lagen die Voraussetzungen
gegeben. Die intensive Grünlandbewirtschaftung ergibt ihrerseits die Grundlage für
die Rindviehhaltung mit Milcherzeugung als vorwiegender Nutzungsrichtung. Die
Möglichkeit des Kartoffelbaues ergibt auch günstige Grundlagen für eine angemes-
sene Schweinehaltung auf wirtschaftseigener Grundlage.“225
back to the
book Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945"
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937